Bleiben oder Gehen

Bleiben oder Gehen?

Schriftsteller aus der DDR über Trennendes und Verbindendes 50 Jahre nach dem Mauerbau

Liedermacher Stephan Krawczyk griff zum Bandoneon.

Zwei Abendforen in der Französischen Friedrichstadtkirche am 15. und 22. Juni 2011

Bleiben oder gehen? – viele Milieus in der DDR der späten achtziger Jahre waren von dieser Frage geprägt. Auf welcher Seite der Mauer sie leben wollen, konnten auch prominente DDR-Bürger oder Künstler bekanntlich nicht frei beantworten – wer einen Ausreiseantrag gestellt hatte, verlor seine Arbeit und war Repressionen ausgesetzt.

An zwei Abenden haben wir mit Schriftstellern aus der DDR intensive Zeitzeugengespräche über das Bleiben oder Gehen geführt. Die Autoren waren eingeladen, frei zu erzählen und ihre persönlichen Erlebnisse in die Analyse der historischen Ereignisse einzubetten.

Zu Gast waren am ersten Abend Katja Lange-Müller und Rolf Schneider. Ihr Rückblick wurde nicht allein musikalisch untermalt von Ekkehard Maaß. Am zweiten Abend haben sich Susanne Schädlich, Thomas Brussig und der Liedermacher Stephan Krawczyk auf dem Podium in der Evangelischen Akademie getroffen. Wir blickten in ein Kaleidoskop mit unterschiedlichen Erlebnissen zu verschiedenen Phasen der DDR-Geschichte: Rolf Schneider erzählte aus dem Blickwinkel desjenigen, der Hoffnung in die sozialistische Gesellschaft gesetzt hatte und enttäuscht worden war. Katja Lange-Müller berichtete aus der Sicht der Funktionärstochter, die immer wieder aneckte und schließlich einen Ausreiseantrag stellte. Susanne Schädlich verließ die DDR als Kind ungefragt mit ihren Eltern, während Stephan Krawczyk aus dem Gefängnis heraus in den Westen entlassen wurde. Thomas Brussig wiederum war – wie der Mehrheit der DDR-Bürger –oppositionelles Handeln fremd, er beschrieb eindrücklich, dass er Teilung und Mauer nie infrage gestellt hatte. Ekkehard Maaß schließlich berichtete über die Szene auf dem Prenzlauer Berg und begleitete die Veranstaltung mit Liedern von Wolf Biermann und Bulat Okudschawa an Gitarre und Harmonium. Stephan Krawczyk griff zu Gitarre und Bandoneon.

Genau 50 Jahre nachdem Walter Ulbricht der Welt versicherte, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu bauen, näherten wir uns mit dem Schriftsteller Rolf Schneider und der Autorin Katja Lange-Müller den Lebensläufen beider, ihren Prägungen aus der frühen und mittleren Phase der DDR-Geschichte. Beide Schriftsteller sehen den Mauerbau als wichtige politisch-historische und persönlich wahrgenommene Zäsur: Die Allgegenwart der Mauer veränderte das Lebensgefühl in der DDR erheblich, Rolf Schneider, der sich an Zeiten erinnerte, da er mit der U-Bahn „zwischen Kapitalismus und Sozialismus hin- und herfahren“ konnte, beschrieb eindrücklich die Wirkung des Eingesperrtseins, dem beide Autoren in unterschiedlicher Weise schließlich entkommen sind: Frau Lange-Müller durch Ausreise, Rolf Schneider dank des Privilegs einer Reiseerlaubnis.

Beide Autoren berichteten von ihrer familiären Prägung: Schneider als Arbeitersohn und Katja Lange-Müller als Tochter von hochrangigen Funktionären - der eine mit dem Rückblick auf die Hoffnung, die er die Zeit nach der Ulbricht-Ära gesetzt hatte und den Schock der beginnenden Eiszeit – und die andere mit der Erinnerung an Auseinandersetzungen mit den staatsnahen Eltern. Katja Lange-Müller wurde früh in staatliche Obhut gegeben, ihre Eltern waren für die Kinder wenig präsent. Als Schülerin eckte sie an und wurde schließlich der Schule verwiesen – nach verschiedenen Provokationen hatte ein Reim die Geduld des Schulleiters überstrapaziert: „Alle Kinder, groß und klein, sagen zur Verfassung – ja!“, dichtete sie, als um Beifallsbekundungen für die neue Verfassung der DDR gebeten wurde.
Die pro-sozialistische Herkunft und politische Überzeugung waren bei Rolf Schneider wie auch bei Katja Lange-Müller  weniger stark als ihr jeweiliger Eigensinn, der sie in Konflikt mit der SED-Autorität brachte. Katja Lange-Müller als renitente Schülerin, Rolf Schneider in seiner Enttäuschung, die 1976 in Protest gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann mündete. Rolf Schneider, der zwar in Ungnade fiel, zugleich aber weiter reisen durfte, sinnierte über erwartete Verhaltensmuster und individuelle Kriterien für vertretbares, korrektes Handeln. „Ich musste mich immer wieder fragen, ob ich morgens noch in den Spiegel schauen konnte.“ Ihm sei gedroht worden, dass seine Kinder im Falle ausbleibenden Wohlverhaltens des Vaters gefährdet sein würden. Schneider beschrieb die Gradwanderung zwischen schriftstellerischer Freiheit und Gängelung durch die SED-Kulturpolitik als „hochkompliziertes Geschäft“, in dem sich seine Ideale im Laufe der Zeit gewandelt haben. Anders als seine Kollegin hatte er die Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen, mit Rücksicht auf seine Eltern und Kinder nie in Betracht gezogen.
Katja Lange-Müller berichtete über die Zeit nach ihrem Weggang aus der DDR, von ihrem Neuanfang in West-Berlin sowie über erhaltene und gekappte persönliche Bindungen. Schneider erinnert sich an eine doppelte Perspektive, da er Ost und West parallel erleben konnte.
Die Veranstaltung lebte vom Kontrast zwischen den beteiligten Zeitzeugen: Dem bedächtigen und reflektierten fast achtzigjährigen Rolf Schneider saß die zwanzig Jahre jüngere Katja Lange-Müller gegenüber, die nicht minder reflektiert in Berliner Tonfall anekdotenreich sprach, "als kleines Rattengewitter", wie ihre Großmutter einst befunden habe.
Auch an den diversen Tätigkeiten, die Frau Lange-Müller als Schriftsetzerin, und Hilfsschwester ausgeübt hatte, wurde deutlich, dass die Karrieren der „Ingenieure der Seele“ (Stalin) in der DDR keineswegs gradlinig verlaufen sind – auch wenn sie vom Staat gefördert waren. Der Grad der Abhängigkeit, in der beide waren, wechselte – Momente der Repression standen immer wieder kleinen Gunsterweisungen gegenüber. Das Ausgeliefertsein hat beide in unterschiedlicher Weise geprägt und ihren Selbstbehauptungsdrang gestärkt. Der der erfahrene Dramatiker und Schriftsteller wie auch die einstige  Literaturstudentin sagen heute auch augenzwinkernd von sich, sie hätten wenig Gelegenheiten ausgelassen, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.

Wir haben auf der zweiten Veranstaltung mit der Autorin Susanne Schädlich, ihrem Kollegen Thomas Brussig und dem Liedermacher Stephan Krawczyk  über die letzte Phase der DDR und die daraus resultierenden Prägungen gesprochen.
Der Schriftsteller Thomas Brussig schien einen versteckten Vorwurf zu spüren, dass er in der Zeit der Friedlichen Revolution weder an Ausreise gedacht, noch an Protesten für Reformen in der DDR teilgenommen hatte. Einen Höhepunkte erreichte die Diskussion, als er tief ins sich gekehrt und nachdenklich erklärte, er habe sich den Demonstrationen für Reformen in der DDR nicht angeschlossen – aus Furcht, erschossen zu werden. Da Brussig zuvor über seinen Wehrdienst bei der Bereitschaftspolizei der Volkspolizeit gesprochen hatte, wurde unausgesprochen deutlich, dass seine Furcht sich aus Insiderkenntnis speiste.
Stephan Krawczyk, einst strafrechtlich verfolgter und inhaftierter Oppositioneller, zeigte sich offen und verständnisvoll auch gegenüber Thomas Brussig, dem Widerstand gegen die SED einst fern lag. Der Auftritt aller drei bewies, wie wichtig Zeitzeugenberichte sind, wie lebendig Geschichte wird, aber auch wie sie bis heute die Protagonisten beieinflusst und wie sehr sie von persönlichen Erfahrungen geprägt sind.

Die Tochter des in der DDR in Ungnade gefallenen Schriftstellers Hans Joachim Schädlich tauchte in ihre Erinnerungen an das Ende der 1970er Jahre ein. Die Familie reiste aus, nachdem der Vater nicht nur gegen die Biermann-Ausbürgerung protestiert, sondern auch die DDR-kritische Publikation „Versuchte Nähe“ in der Bundesrepublik veröffentlicht hatte. Susanne Schädlich bezeichnet Übersiedlung und Verlust ihrer Heimat, ihrer Klassenkameraden und Freundinnen als „Tod“ – das vorangegangene Leben erschien ihr als Kind verloren.
Die Autorin beschrieb die Fremdheit, die sie nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik empfand, das Unverständnis, auf das sie als Kind unter den westdeutschen Mitschülern stieß, die Vorurteile, mit denen sie konfrontiert war: „Leute aus der DDR riechen anders“, sei ihr damals vorgehalten worden. Die Familie fasste aus verschiedenen Gründen im Westen schwer Fuß, die Eltern trennten sich. Susanne Schädlich pflegte ein enges Vertrauensverhältnis zu ihrem in der DDR gebliebenen Onkel, der ihr Bezugsperson, Freund und Ratgeber war und versuchte, sie als Heranwachsende unter dem Vorwand, ihr eine Lehrstelle am Theater besorgen zu können, in die DDR zurücklocken wollte. Wie sich nach dem Mauerfall herausstellte, hat dieser Onkel ihr Vertrauen über Jahre missbraucht und sie wie auch ihren Vater Hans Joachim über Jahre an das Ministerium für Staatssicherheit verraten. Nach der Offenlegung der Akten über das Doppelleben des Onkels nahm sich dieser das Leben – es wurde offenkundig, wie stark dieser Vertrauensmissbrauch Susanne Schädlich, die diese Erfahrung in einem vielbeachteten Buch beschrieben hat, bis heute prägt. Susanne Schädlich bezeichnet sich selbst als „Exilantin“ – erst ihr Aufenthalt in den USA habe ihr geholfen, den Schmerz, Heimat-, Familie und Vertrauen unwiederbringlich verloren zu haben, zu überwinden.
Thomas Brussig wuchs ohne Zweifel an der Zweistaatlichkeit in staatsnahen Verhältnissen auf: Gegen den Sonnenuntergang sei man ja auch nicht angegangen, sagt er. Über Ausreise oder den Mauerfall habe er nicht nachgedacht. Es war dem Autor von "Helden wie wir" und der "Sonnenallee" anzumerken, wie viel Unsicherheit über sein damaliges Verhalten und Selbstzweifel in ihm stecken. Anders als die humorvollen, ironischen Bücher über Jugendliche zum Ende der DDR nahelegen könnten, macht er sich Gedanken über sein Verhalten - insbesondere, wenn er mit Lebensläufen anderer konfrontiert ist wie an diesem Abend.
Schließlich hat Stephan Krawczyk zur Diskussion positiv beigetragen. Sein Witz, unter dem seine Sachlichkeit und sein klares historische Urteil nicht leiden, bereicherte den Abend. Virtuos kleidet er Analyse und persönliches Erleben in  gesprochene wie in gesungene Texte.

Es wurde dem Publikum anhand der Biographien der geladenen Zeitzeugen deutlich, wie innerfamiliärer Verrat schmerzt und eben nicht verjährt, welche Verpflichtung aus dem Widerstand von einst bis heute erwächst und welche Fragen gedankenloses oder bewusstes Mitlaufen mit der Mehrheitsgesellschaft im Rückblick aufwerfen.
Alle sechs Podiumsgäste stehen für die künstlerische Auseinandersetzung mit der Teilung. Und obgleich wir keine explizite Literaturkritik betrieben haben, so wurden doch immer wieder Bezüge zur schriftstellerischen Auseinandersetzung mit der Mauer und der Teilung hergestellt. Es wurde deutlich, dass die Erfahrung der Teilung auch nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit Wahrnehmung und Wirken Intellektueller aus der DDR entscheidend beeinflusst und ihr Demokratieverständnis durchdrungen ist vom Diktaturerleben.

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