Predigt zum Abschluss Predigtreihe „Klare Worte“ zu den Zehn Geboten

Predigt zum Abschluss der Predigtreihe „Klare Worte“ zu den Zehn Geboten

Dr. Rüdiger Sachau am 16. Dezember 2012 in der Französischen Friedrichstadtkirche

Dr. Rüdiger Sachau, 16.12.2012 (PDF-Dokument, 281.1 KB)

Die Summe des Gesetzes

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand. Dies ist das höchste und erste Gebot. Das zweite aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Predigttext: Matthäus 22,37-40

Einleitung
Liebe Gemeinde,
Klare Worte! Seit Jahresbeginn haben wir elf Predigten zu den Zehn Geboten gehört. Alles begann mit einer Erinnerung, der Befreiungsgeschichte, über die Pfarrer Kaiser im Januar predigte. Das Fundament, der Ausgangspunkt, ist die von Gott geschenkte Freiheit.
Und darum zog sich bei den zehn Predigten über die Zehn Gebote eine Spur der Freiheit hindurch: Die sogenannten Gebote sind Wegweisungen, die uns das Leben mit Gott und untereinander leichter machen. Es geht nicht um saure Moral, um Missgunst, sondern um die Befreiung zum Leben in Beziehungen.
Dass diese Beziehungen oft scheitern, dass unsere Realität oft eine andere ist, steht uns täglich vor Augen: das Schulmassaker in den USA, die grauenhaften Bürgerkriege in Syrien und im Inneren des afrikanischen Kontinents. Die Unfähigkeit, zu einer Verständigung zwi-schen Nord- und Südkorea zu kommen, die mangelnde Entschlossenheit, dem Klimaraubbau entgegen zu treten – wider besseres Einsehen und auf Kosten unserer Kinder und Enkel. Die nicht endenden Begehrlichkeiten und Besitzgier – nicht nur bei den Wohlhabenden unseres Landes mit Schweizer Konten, sondern auch unter uns im Mittelstand, der meint, seine Schäflein ins Trockene bringen zu müssen und Renten und Pensionen erwartet, die nur auf Kosten anderer, meist in fernen Ländern, zu erzielen sind. Wir verstoßen immer wieder gegen die in den Geboten enthaltenen Wegweisungen. So auch gegen das Gebot der Elternehrung, wenn wir alte Menschen nur unter Alternativen - entweder „fit im Alter“ oder „Pflegefall“ - reduzieren.
Führen wir uns noch einmal alle Predigten dieses Jahres über die Zehn Gebote vor Augen, dann wird uns deutlich, wie nötig diese klaren Worte sind, Orientierungen, Maßstäbe und Lebenshilfe. Und was ist nun das höchste, das wichtigste Gebot von allen? Dieser Frage werden wir heute nachgehen, und wir werden erkennen dass die zehn Worte des Lebens in ihrem Inneren miteinander verbunden sind. Denn es geht um Beziehungen, zu uns selbst, zu Gott und zum Nächsten.

Der Text und sein Kontext
Doch schauen wir uns zuerst den Text an, in dem das sogenannte Doppelgebot der Liebe im Neuen Testament genannt wird.
In der Textstelle Matth. 22, 35 – 40 geht es um Auseinandersetzungen, die Jesus mit Phari-säern in Jerusalem nach seinem Einzug und vor seiner Gefangennahme und Kreuzigung hatte:
Und einer von ihnen, ein Schriftgelehrter, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
In der älteren Fassung im Markus-Evangelium wird die Antwort Jesu mit dem Bekenntnis eröffnet:
Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein.
Damit zitiert Jesus einen der wichtigsten Texte des Judentums aus Deuteronomium (5. Mose) 6,5 und kombiniert dieses mit einem Zitat aus Leviticus (3. Mose) 19,18, dem sogenannten Heiligkeitsgesetz. Denn dort heißt es bereits:
Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst.
In der Markus-Fassung des Gespräches erkennen wir auch deutlich, dass es hier gar keinen Streit gibt, denn dort lesen wir auch das Urteil des Schriftgelehrten:
Meister, du hast wahrhaftig recht geredet! (Mk. 12,32)
Das heißt, Jesus war mit seiner Sicht auf die Zusammenfassung der Gebote in Gottes- und Nächstenliebe auf der Höhe seiner Zeit. Seine Antwort auf die Frage nach dem höchsten Gebot spiegelt eine verbreitete Sicht im damaligen Judentum. Und die lässt sich lange vor Jesus zurückverfolgen. So heißt es im Testament der zwölf Patriarchen, einem Text, der zur Zeit Jesu bereits 200 Jahre alt war.
Liebet den Herrn in eurem ganzen Leben und einander mit wahrhaftigem Herzen
Halten wir fest: „Das Doppelgebot der Liebe, wie Jesus es formuliert hat, ist durch und durch jüdisch.“  Es lässt sich nicht als einen christlichen Besitzstand gegen das Judentum in An-spruch nehmen, um irgendeinen „überlegenen Mehrwert“ zu begründen.
Nun wollen wir als nächstes fragen, was das sogenannte Doppelgebot der Liebe eigentlich in seinem Kern ausmacht.

Beziehungen, Relationen, Interaktionen
In meiner Einleitung habe ich es bereits gesagt: Es geht um Beziehungen. Die Summe des Gesetzes ist als Beziehungsdynamik zu verstehen. Aber es geht gar nicht um zwei sondern um drei Beteiligte, das Doppelgebot der Liebe ist eigentlich ein Dreiergebot. Es geht um mich selbst, um Gott und um den Nächsten.
Tripelgebot der Liebe hat es darum ein Theologe genannt und er hat Recht.
Die für mich eigentlich spannende Erkenntnis ist, dass es in allen Geboten um Beziehungen geht. Beziehungen ohne Konkurrenz, von ihnen ist keine wichtiger oder unwichtiger als die anderen. Fällt eine aus oder wird schwach, dann ist das Ganze des Gebotes, der innere Kern gefährdet. Dann veräußerlicht das Gebot, wird zur bloßen Moral und zum Gesetz.
Ich stelle mir das in einem Bild vor. Ich denke an ein Beziehungsdreieck, an dessen einer Ecke wir selber zu finden sind, an den anderen beiden Ecken denken wir uns Gott und den Nächsten.
Schauen wir uns das einmal aus unserer Ecke an: Wenn wir einem anderen Menschen be-gegnen, sei es im Guten oder im Schlechten, dann begegnen wir einem Menschen, mit dem nicht nur wir zu tun haben, sondern der zugleich in einer Beziehung zu Gott steht als sein Geschöpf, als sein Kind.
Wenden wir uns zu Gott, im Gebet, im Gottesdienst, dann wenden wir uns zu dem Gott, der sich selber auch an den anderen wendet. Die Liebe zu Gott ist undenkbar ohne die Liebe Gottes zu dem Nächsten. Das sollte Konsequenzen haben auch für unseren Blick.
Schauen wir uns die drei Ecken der Beziehung genauer an, denken wir dabei immer daran, dass sich hier die Summe aller Gebote ausdrücken will.

Erstens: Die Liebe zu sich selbst – ein Problem?
In der christlichen Tradition hat lange die Auffassung geherrscht, dass wir das höchste Gebot der Nächstenliebe am besten durch Selbstlosigkeit und Selbstverleugnung erfüllen Gegen egoistische Interessen sollten wir ganz beim anderen sein, uns selbst in den Hintergrund stellen.
Kritisiert werden sollte damit jedes selbstsüchtige Verhalten, das kein Empfinden für die Be-dürfnisse anderer, insbesondere der Schwachen und Armen hat. Menschen, die nur an sich selber denken, sind uns allen unangenehm, und ihr Verhalten, ob in der U-Bahn, bei der Arbeit oder in der Kirche stößt negativ auf.
Aber es gibt auch eine Art der Selbstaufgabe, des Einsatzes für andere, die genauso negativ ist. Wenn Menschen immer wieder betonen, dass sie sich selber ja hinten anstellen und alles gerne für andere tun. Ja, wenn sie ihre Befriedigung allein aus dem Einsatz für andere ziehen, dann müssen wir fragen, ob nicht auch hier eine verdrehte Form der Selbstsucht herrscht. Vor einigen Jahren wurde diese Haltung, die besonders in sozialen Berufen und in der Kirche anzutreffen ist als „Helfersyndrom“ bezeichnet.
Die Beobachtung war, dass Helfen auch zur Sucht werden kann. Der verzweifelte Versuch, ein Ideal zu verkörpern und dabei bis zur Selbstschädigung hilfsbereit zu sein. Nicht nur, dass dieses oft zu Depression oder Burnout-Syndrom führen kann, oft erkennen Menschen, die immer und überall sich als Helfer sehen, nicht die Grenzen des anderen, der sich vielleicht gerade nicht helfen lassen will.
Psychologen sind der Meinung, dass Menschen, die immer nur für andere sorgen können, etwas Wesentliches fehlt: Urvertrauen, Ich-Stärke, also Selbstliebe.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Wer zwanghaft nur für andere da ist und sich selbst vergisst, ist nicht vorbildlich, sondern in der Gefahr, die Liebe zum anderen zur Leistung werden zu lassen. Das ist Ausdruck von großer Unfreiheit und beschädigt das Beziehungsdreieck zwischen mir, dem Nächsten und Gott.
Was mir hilft, ist mich selber als ein Geschenk anzusehen, Gott ist es, der mir das Leben gegeben hat, Gott ist es, der mich liebt. Das anzunehmen ist der erste Schritt, um wahrhaftig liebesfähig zu werden. Wer ständig gibt, hat keine Hand frei, sich beschenken zu lassen.
Und wer sich selbst nicht achtet, wird unter der Hand auch den anderen verachten, weil man sich durch das Opfer von Zeit, Kraft und den Verzicht auf Freude und Genuss heimlich über-legen fühlt.
Das Dreifachgebot der Liebe erinnert uns an uns selbst; wir sind wertvoll, weil wir liebenswert sind in den Augen Gottes.

Zweitens: Die Liebe zu Gott – geht das ungezwungen?
Du sollst Gott lieben!
Du sollst ihn lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand! Geht das? Lieben auf Befehl?
Einer, der das mit aller Kraft versucht hat und daran verzweifelt ist, war Martin Luther. Er fürchtete die Strafe Gottes für den Fall der Nichterfüllung. Und weil er sich fürchtete, konnte er nicht lieben. Er stand in einer tödlichen Zwickmühle. Erst als er erkannte, dass Liebe dadurch entsteht, dass uns ein liebenswürdiges Gegenüber begegnet, und dass Gott uns zuerst liebt, wurde er frei.
In der Tat ist der Anfang der Gottesliebe nicht bei uns, sondern bei Gott selbst. Wenn Gott als die Liebe selbst im Johannesbrief (1. Joh. 4,9) bezeichnet wird, dann, weil es eine Liebe in Aktion ist, eine Liebe, die in dem Menschen Jesus zu uns kommt. Jetzt in der Advents- und Weihnachtszeit erinnern wir uns an diese liebevolle Zuwendung Gottes.
Einen solchen Gott können auch wir mit Liebe anrufen. Und diese Liebe kann frei machen, unser Herz nicht an andere Dinge zu hängen. Nicht an Macht, nicht an Besitz. Die Zehn Ge-bote bekommen eine andere Dynamik, wenn wir sie als durch Liebe Befreite lesen. Dann sind sie uns nicht Gesetz, sondern Ermutigung.
„Liebe und tu, was du willst.“
Der häufig zitierte Satz des Kirchenvater Augustinus hat seine Basis in dieser Befreiungser-fahrung. Anders sollten wir die Gebote nicht lesen, aber das Tun, das Handeln darf auch nicht hinten überfallen. Wer Gott liebt, trifft auf einen Gott, der die Menschen liebt, alle. Diese, seine Liebesbeziehung können wir nicht unterlaufen, indem wir unsere Liebe zu den Mitmenschen zurückhalten.
Diese dritte Ecke unseres Beziehungsdreiecks wollen wir uns nun zum Schluss anschauen:

Drittens: Nächstenliebe
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
Das Wort Jesu weist uns sehr klar in die Relation zu einander. In der Übersetzung von Buber und Rosenzweig wird die Beziehungsdimension noch deutlicher:
„Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“
Wolfgang Huber hat das so ausgedrückt: „Denn auch das Leben des anderen ist ein Ge-schenk Gottes, für das nicht nur der andere selbst, sondern alle dankbar sind, die mit ihm in Verbindung stehen. Alle tragen deshalb Verantwortung nicht nur für das eigene Leben, son-dern auch für das Leben der anderen“.
Wer ist mein Nächster? Auf wen soll ich mich beziehen, wenn ich die Zehn Gebote achten und mit Handeln füllen will? Im Lukas-Evangelium ruft die Aussage, Jesu, Gott und den Nächsten zu lieben wie sich selbst, eine Nachfrage aus: Wer ist mein Nächster?
Nach Lukas antwortet Jesus mit einem Gleichnis, der Erzählung vom barmherzigen Samari-ter (Lukas 10,25-37). Das Gleichnis sagt uns, dass sich die Gottesliebe nicht lösen lässt von der tätigen Nächstenliebe an denen, die mir auf meinem Lebensweg begegnen. Ich suche sie mir nicht aus. Und wir alle wissen, dass es auch in unserem Leben so ist.
Bei Lukas folgt dann eine kurze Erzählung, die von Maria und Martha. Martha ist fleißig, be-müht und arbeitet sich für Jesus ab, als er zu Gast in ihr Haus kommt. Maria hört Jesus zu, sie erinnert uns alle daran, dass wir uns erst beschenken lassen dürfen, bevor wir aktiv wer-den.
Was heißt das heute für uns? Wer sind uns die Nächsten? Und ich will durchaus anerkennen, dass die äußeren Bedingungen für uns schwieriger und unübersichtlicher geworden sind, als es für Menschen in vergangenen Zeiten war. Wir wissen einfach zu viel! Gerade darum sind klare Worte eine notwendige Orientierungshilfe, um einen freien Blick zu gewinnen, der über meinen Alltag und Nahraum hinausgehen kann.
Hans Jonas hat im „Prinzip Verantwortung“ darauf hingewiesen, dass wir nicht nur für die unmittelbaren Folgen unseres Handelns einstehen müssen, sondern auch Verantwortung für die langfristigen Konsequenzen tragen müssen.  Das bisherige Verständnis von Nächsten-liebe geht zu kurz, es bleibt in der Gegenwart. Das reicht nicht aus angesichts der ökologi-schen Krise und der technischen Möglichkeiten, das Leben auf der Erde dauerhaft zu ge-fährden. Mit dem Wandel der Technik muss die Ethik zur „Fernstenliebe“ erweitert werden.
Jonas hat Recht in seiner Kritik und er nimmt das Wort Jesu von der Summe des Gesetzes auf angemessene Weise ernst. Die Liebe kann nicht begrenzt werden, weder durch Raum noch durch Zeit.

Zum Schluss
Deutlich ist, dass uns der Blick der Liebe ermöglicht, die Zehn Gebote als Eröffnung von Freiheit zu lesen. Aber genauso deutlich ist, dass uns diese Freiheit zum Handeln verpflichtet. Denn Gottesdienst, Glaubenszeugnis und Liebestat gehören zusammen, so wie die Liebe zu Gott, die Liebe zum Nächsten und die Liebe zu uns selbst.
Zehn klare Worte haben wir gehört, Monat für Monat. Eine wichtige, zentrale Orientierung für das Leben, die uns Sonntag für Sonntag hier im Gottesdienst in Erinnerung gebracht wurde.
Entscheidend ist die Haltung, in der wir sie hören, sie aufnehmen und auch anwenden: In Freiheit sollen wir hören und uns mit der Liebe, die wir empfangen haben dem Nächsten zu-wenden, denn er ist wie du ein Kind Gottes.
Liebe Gemeinde, klare Worte sind das eine, nun müssen ihnen wahrhaftige Taten folgen, damit die Freiheit des Hörens zur Gerechtigkeit führt.
Dazu gebe uns Gott seinen Segen. Amen

 

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