Predigt zum Neunten Gebot (2. Mose 20,16) in der Predigtreihe „Klare Worte“ zu den Zehn Geboten

Predigt zum Neunten Gebot (2. Mose 20,16) in der Predigtreihe „Klare Worte“ zu den Zehn Geboten

Meike Waechter am 21. Oktober 2012 in der Französischen Friedrichstadtkirche

Meike Waechter am 21. Oktober 2012 (PDF-Dokument, 36.3 KB)

Liebe Gemeinde,

das neunte Gebot weiß um die Macht von Worten. Worte, die Tatsachen verdrehen, die Behauptungen aufstellen oder Menschen in die Irre führen, können unwiderruflichen Schaden anrichten.

Das neunte Gebot spricht die Situation vor Gericht an: "Du sollst nicht als falscher Zeuge aussagen gegen deinen Nächsten".

Der Zeuge hatte in hebräischen Gerichtsprozessen große Verantwortung. Oft war der Zeuge gleichzeitig der Ankläger, musste beim Urteilsspruch mitwirken und hatte bei einem Todesurteil den ersten Stein zu werfen (Dt 17, 2-7). Sein Wort diente der Wahrheitsfindung und dem Vollzug der Gerechtigkeit. Vom Wort des Zeugen hing die Zukunft des Angeklagten ab. Auf das Wort des Zeugen, musste das Gericht sich verlassen können. Deshalb wurde das falsche Zeugnis streng geahndet. Ein Mensch, der ein falsches Zeugnis ablegt, sollte die Strafe erleiden, die er dem Angeklagten zugedacht hatte. (Dt 19,18)

Im Neuen Testament können wir von einem Gerichtsprozess lesen, bei dem falsche Zeugen auftreten. Sie schrecken weder vor dem neunten Gebot zurück, noch vor der drohenden Strafe. Hier wird versucht, ein Todesurteil durch falsche Zeugenaussagen zu erzwingen. Diesen Prozess kennen Sie alle.
Matthäus schreibt (Mt 26):
57Die aber, die Jesus festgenommen hatten, führten ihn vor den Hohen Priester Kajafas, wo sich die Schriftgelehrten und die Ältesten versammelt hatten.
…..59Die Hohen Priester aber und der ganze Hohe Rat suchten nach einer falschen Zeugenaussage gegen Jesus, um ihn töten zu können;
60doch sie fanden keine, obwohl viele falsche Zeugen auftraten.
Dieser Prozess ist er eine Farce. Die Hohen Priester und der Hohe Rat hatten das Urteil im Voraus beschlossen. Jesus sollte getötet werden. Nun suchten sie einen Grund dafür und schreckten auch nicht vor falschen Zeugenaussagen zurück. Allerdings konnten sie die nicht in ausreichender Zahl finden. (Dt, 17 6: Wer auf den Tod angeklagt ist, soll aufgrund der Aussage von zwei oder drei Zeugen getötet werden; aufgrund der Aussage eines einzigen Zeugen darf er nicht getötet werden.) Trotzdem lassen sie sich nicht aufhalten. Wir wissen, dass Jesus getötet wurde. Schließlich wurde ihm Gotteslästerung vorgeworfen und dafür wurde er verurteilt (Mt 26, 65f.).
In diesem Gerichtsprozess wird deutlich, dass die Übertretung des neunten Gebotes gepaart ist mit Skrupellosigkeit und mit Bosheit. Durch die Übertretung des neunten Gebotes soll einem anderen Menschen Schaden zugefügt werden, im schlimmsten Fall sogar den Tod.

Worte können mächtig sein. Worte können töten.

Das neunte Gebot weiß von dieser Macht und will den angeklagten Nächsten, das Gericht/ die Rechtssprechung, aber auch den Zeugen selbst schützen.
Der Angeklagte soll vor Verlogenheit, Hass, Rache, Heimtücke, vor Bosheit geschützt werden, vor allem, was einen Menschen dazu bringen kann, einem anderen vorsätzlich zu schaden. Er muss auch vor willkürlichen Behauptungen, Meinungen oder Vorurteilen geschützt werden – auch das sind falsche Zeugenaussagen.
Das Gericht selbst, die Rechtssprechung muss vor falschen Zeugen geschützt werden. Ein Gericht, das der Wahrheit und der Gerechtigkeit verpflichtet ist, muss sich auf glaubwürdige Zeugen stützen können. Ein Gericht, das falsche Zeugen anruft und falsche Aussagen zulässt, verkommt zu einer Farce, es treibt sich selber ad absurdum, wie wir es bei Matthäus gehört haben.
Aber auch der Zeuge selbst wird durch dieses Gebot geschützt. Nicht der falsche Zeuge, sondern der Zeuge, der die Wahrheit sagen will, wird durch das Gebot geschützt. Der Zeuge ist allein der Wahrheit verpflichtet und sonst nichts und niemandem. D.h. der Zeuge ist vor Menschen geschützt, die seine Zeugenaussage beeinflussen wollen. Es ist vorstellbar, dass Menschen, die Autorität über den Zeugen haben, versuchen könnten, diesen zu beeinflussen, z.B. ein Herrscher, ein Vorgesetzter, ein Familienoberhaupt. Aber diese Hierarchien sind vor Gericht bedeutungslos. Sobald die Wahrheit verdreht wird, und sei es aus gut gemeinter Absicht oder Loyalität, wird der Zeuge zu einem falschen Zeugen. Die Wahrheit steht über Befehlen oder Meinungen.

Worte können mächtig sein. Auch außerhalb des Gerichts.
Einige Bibelübersetzungen übersetzen das neunte Gebot schlicht mit „Lüge nicht!“ Sie betreten damit den Alltag außerhalb des Gerichts. Diesen Schritt gehen nicht nur diese etwas freien Übersetzungen. Diesen Schritt geht auch der Prophet Hosea, als er Menschen für verschiedene Vergehen angeklagt, die er auflistet, wie eine Übertretung der Zehn Gebote (Hos 4,2): Verfluchen, Lügen, Morden, Stehlen, Ehebrechen haben überhand genommen.  Dieser Schritt wird auch im Brief an die Epheser gegangen, wenn es heißt (Eph 4, 25-32): Legt ab die Lüge! Jeder von euch sage, wenn er mit seinem Nächsten spricht, die Wahrheit. Und so geht auch der Heidelberger Katechismus weiter, wenn er schreibt (HK Frage 112): „Vor Gericht und in all meinem Tun soll ich die Wahrheit lieben.“
Der Schritt hinaus aus dem geschützten Raum des Gerichtes hinein in den Alltag ist richtig. Selbstverständlich sind wir auch im Alltag der Wahrheit verpflichtet. Und trotzdem ist dieses Gebot außerhalb des gerichtlichen Rahmens, viel schwieriger zu fassen.
Müssen wir immerzu und allen Menschen gegenüber die Wahrheit sagen? Was ist mit sogenannten Notlügen? Gibt es nicht auch Unwahrheiten, die unbedenklich sind? Ist es nicht selbstverständlich, um des lieben Frieden willens oder aufgrund von Gepflogenheiten, nicht immer die Wahrheit zu sagen? Z.B.: Ich werde gefragt: Wie geht es dir? – und mir ist nicht danach über meine derzeitigen Befindlichkeiten zu sprechen, deshalb sage ich: Danke gut und selbst? – anstatt zu erzählen, wie es mir wirklich geht.
Wir lesen in der Bibel von Menschen, die lügen, die die Wahrheit verdrehen oder verschweigen und diese Menschen werden dafür nicht verurteilt, sondern z.T. als Vorbilder herausgestellt.

Zwei Beispiele:
1. Im ersten Buch Moses wird die gleiche Lügengeschichte leicht verändert dreimal erzählt (Gn 12, 10-20; 20, 1-18; 26,7-11). Abraham behauptet gegenüber dem König Abimelech und seinem Gefolge,  dass seine Frau Sarah seine Schwester sei. Er fürchtet, dass sie seine Frau aufgrund ihrer Schönheit für sich haben wollen und ihn dafür töten würden. Durch seine Lüge, bleibt er selbst verschont, seine Frau setzt er aber der Gefahr aus, dass die Männer des Abimelech sich an ihr vergreifen. Als die Lüge aufgedeckt wird, ist der König empört, schließt aber dennoch mit Abraham Frieden. Die Lüge wird an keiner Stelle verurteilt, nicht von Gott, auch nicht in einer redaktionellen Anmerkung.
2. Als das Volk Israel in Knechtschaft in Ägypten lebte und die Ägypter meinten, dass das Volk zu groß werde, beauftragte der Pharao die Hebammen Schifra und Pua, alle kleinen Jungen, denen sie auf die Welt helfen, sofort umzubringen. Die beiden tun das natürlich nicht und behaupten gegenüber dem Pharao, dass die Frauen ihre Kinder ohne ihre Hilfe gebären und dann bereits versteckt hätten, wenn sie zu ihnen kommen. Diese Lüge rettet das Volk Israel vor dem Kindermord. Gott segnet die beiden Hebammen. (Ex 1, 15-21)

Ich glaube nicht, dass das neunte Gebot die Wahrheit um der Wahrheit willen verteidigen will. Ich glaube nicht, dass wir immerzu und allen Menschen gegenüber die Wahrheit sagen müssen. Wir sollen nicht durch die Wahrheit versklavt werden.
Müsste ich auf die Frage: Wie geht es dir? die reine Wahrheit sagen, würde diese Wahrheit schwerer gewichtet, als mein Unwohlsein beim Erzählen, wie es mir geht.
Abraham, Schifra und Pua haben gelogen, aber sie haben dadurch Menschenleben gerettet. Das Leben eines Menschen wiegt hier mehr als die Wahrheit.

Also, noch einmal zurück: Der Schritt des neunte Gebots hinaus aus dem geschützten Raum des Gerichtes hinein in den Alltag ist richtig. Selbstverständlich sind wir auch im Alltag der Wahrheit verpflichtet. Und auch im Alltag machen wir die Erfahrung, dass Worte, die Tatsachen verdrehen, die Behauptungen aufstellen, Menschen in die Irre führen, unwiderruflichen Schaden anrichten können. Wer sich darüber Gedanken macht, zeigt gerne auf andere – die Politiker, die uns anlügen, die Wirtschaft, die uns an der Nase herumführt und nicht mit offenen Karten spielt, die Werbung, die uns verführen soll, usw. Aber ich glaube, in diesem weiten Feld ist niemand von uns unschuldig. Das, was der Heidelberger Katechismus in seiner Auslegung des neunten Gebots aufzählt, lässt uns alle verstrickt erscheinen. Zur Erinnerung, dort heißt es: Ich soll gegen niemanden falsches Zeugnis geben, niemandem seine Worte verdrehen, nicht hinter seinem Rücken reden und ihn nicht verleumden. Ich soll niemanden ungehört und leichtfertig verurteilen helfen.
Und ich frage: Wer redet nicht auch hinter anderer Leute Rücken? Wer urteilt nicht oft leichtfertig? Wer hat noch nie Worte verdreht?
Eine falsche Aussage vor Gericht, führt ganz bewusst den Schaden für den Angeklagten herbei. Bei Alltagslügen ist das nicht unbedingt der Fall. Ich glaube, wir machen uns oft nicht klar, wie mächtig tatsächlich Worte sind und welchen Schaden sie anrichten können. Das Gerede hinter dem Rücken eines anderen, das immer wiederkehrende Schlechtmachen, sich Abwenden, Informationen vorenthalten – zu Neudeutsch: Mobbing -  ist eine Verletzung, die krank macht.  Das ist nur ein Beispiel eines Schadens, den Worte anrichten können.

Das neunte Gebot ist nicht nur ein Schutz für Menschen in der Gerichtssituation. Das neunte Gebot will auch Menschen im Alltag schützen, vor falschem Zeugnis, vor Lüge, vor Worten, die Tatsachen verdrehen, die Behauptungen aufstellen, Menschen in die Irre führen und dadurch Schaden anrichten.

So wie der Angeklagte vor einem falschen Zeugnis geschützt werden soll, so soll jede Person, die Opfer einer Unwahrheit zu werden droht, durch dieses Gesetz geschützt werden.

So wie das Gericht vor falschen Zeugen geschützt werden soll, so soll auch die Gesellschaft, die Familie, das Miteinander in der Gemeinde, das Zusammenleben von Menschen geschützt werden. Menschen müssen einander und ihren Worten vertrauen können, sonst zerbricht die Gesellschaft, die Familie oder die Gemeinde.

Und was ist mit demjenigen, der droht ein Lügner zu werden?  Was ist mit uns, die wir hinter dem Rücken reden, Tatsachen verdrehen oder leichtfertig urteilen? Ja, auch wir müssen geschützt werden. Hier sind es vielleicht keine Autoritäten, die uns zu falschen Aussagen anstiften, sondern wir sind es ganz allein selbst. Falsche Worte werden gesprochen, um sich selbst in ein besseres Licht zu stellen, aus Geltungsbedürfnis, Neid oder Missgunst, vielleicht aus Angst oder Unsicherheit. Das neunte Gebot will uns auch davor schützen. Es hilft uns, wahrhaftig zu bleiben.

Am Anfang der Zehn Gebote steht: Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägypten befreit habe, aus dem Haus der Knechtschaft!
Vor Gott müssen wir uns nicht in ein besseres Licht stellen, müssen uns nicht verbiegen oder die Wahrheit zurechtrücken. Gott will uns vor dem Zwang oder der Versuchung, falsch Zeugnis zu reden, befreien, will uns davor bewahren, mit Worten Schaden anzurichten.

Amen

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