Wer spricht nicht von der guten, schönen, geheimnisvollen oder kranken Seele? Wer ist nicht der Meinung, dass es einen Unterschied macht, wenn ein Mitmensch, eine Sportmannschaft, eine politische Partei oder auch eine Landschaft als ‚seelenlos' erscheint? Obwohl oder gerade weil diese Überlegungen Teil unserer alltäglichen Gespräche sind, befinden wir uns heute in einer paradoxen Situation. Einerseits nämlich gehört die Rede über die menschliche Seele unserem Sprachgebrauch an, denn das seelische Erleben stellt eine menschliche Grunderfahrung dar. Andererseits haben wir in den Wissenschaften vom Menschen keinen Platz für ein Verständnis des ‚Seelischen‘. Wir kennen zwar das Phänomen, uns fehlt jedoch ein Begriff, weil die Seele sich der Beobachtung und Feststellung entzieht.
Seit dem frühen 20. Jahrhundert kommen die Natur-, Sozial- und Kulturwissenschaft ohne einen Begriff der Seele aus. Insbesondere die Naturwissenschaften behaupten sich mit großem Erfolg als Analyseverfahren einer ‚Faktenaußenwelt‘ (Arnold Gehlen). Gegenwärtig werden in der Entwicklungspsychologie, der Neurobiologie und -psychologie wie auch der Medizin im Verbund mit den Kognitionswissenschaften durch immer feinere, technologische Verfahren die Strukturen menschlichen Lebens untersucht. Mit der Erforschung der materialen Lebensbasis des Menschen geht ein Desinteresse an den Phänomenen, die sich in der menschlichen (Selbst)Erfahrung und im Verhalten zur Welt zeigen, einher. Hier nämlich geht es um existentielle Spannungen zwischen Vorstellung und Wirklichkeit, Wille und Widerstand und um ‚seelische‘ Konflikte, wenn die Lebensplanung misslingt und die eigene Welt aus den Fugen gerät.
Das wissenschaftliche Desinteresse führt nicht nur zur Blindheit für einen Teil relevanter Lebensphänomene, sondern stellt gleichsam die abendländische Geistesgeschichte auf den Kopf. Von den Anfängen unserer Schriftkultur über die großen Traditionsbestände antiker Philosophie bis zu philosophisch-wissenschaftlichen Abhandlungen der Frühen Neuzeit und den Arbeiten der großen Forscher an den Grenzen von Natur- und Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert steht die Erforschung der menschlichen Seele im Zentrum wissenschaftlicher Debatten.
An vier Abenden werden wir uns der Frage widmen, was verschiedene Wissenschaftsdisziplinen zum Verständnis des Seelischen beitragen. Viele Stimmen müssen gehört werden, viele Perspektiven müssen eröffnet werden – erst dann werden wir sehen, ob unsere Rede von der menschlichen Seele, vom Menschen als einem ‚beseelten‘ Wesen heute noch einen integrativen Sinn für Wissenschaft und Lebenswelt hat. Die Veranstaltungsreihe wendet sich an Interessierte aus Theologie, Religions- und Kulturwissenschaften, Psychologie, Psychiatrie, Philosophie, Psychotherapie und Beratung, Pädagogik, Neuro- und Kognitionswissenschaften und alle, die sich mit diesem exemplarischen Thema im Gespräch von Geistes- und Naturwissenschaften auseinander setzen wollen.
Wir laden Sie herzlich ein
Dr. Rüdiger Sachau
Direktor, Evangelische Akademie zu Berlin
Simone Ehm
Studienleiterin Ethik in den Naturwissenschaften, Evangelische Akademie zu Berlin
Prof. Dr. Gerald Hartung
Leiter des Arbeitsbereichs „Theologie und Naturwissenschaft“,
Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), Heidelberg
Prof. Dr. Michael Pauen
Professor am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin,
Sprecher der Berlin School of Mind and Brain
Unter folgendem Link finden Sie die Dokumentation der Vortragsreihe http://www.eaberlin.de/F54FCF45591E466ABEC54E4762A2BC7C.php