Matthias Freudenberg

27. Oktober 2013

Predigt 4 über Frage 1 des Heidelberger Katechismus (PDF-Dokument, 93.8 KB)

Pfarrer Professor Matthias Freudenberg

Liebe Gemeinde,

es war im letzten Herbst, beim Wandern, da bin ich auf die Geschichte eines jungen Mädchens gestoßen. Ihr Name: Marie Dubois. Sie lebte im 17. Jahrhundert, in Metz war sie zu Hause. Und Protestantin war sie – evangelisch in einer Stadt, in der 1687 der Protestantismus gänzlich verboten wurde. Die Evangelischen, die dort geblieben waren, wurden verfolgt, mussten in den Untergrund gehen, nicht wenige wurden zur Galeerenstrafe verurteilt. Marie Dubois machte sich auf den Weg, über 50 Kilometer ins Saarland, wo sich bereits eine Hugenottengemeinde angesiedelt hatte. Mit Marie brachen auch andere heimlich auf, einmal im Jahr, im September, um Gottesdienst zu feiern, um ihre Kinder taufen zu lassen, um das Abendmahl zu empfangen, um gemeinsam zu beten und Gott zu loben. Gott loben? Ja! Weil sie in ihrer prekären Lage an ihm festgehalten haben, wo alles andere, worauf Menschen sich verlassen, ins Wanken geraten ist.

Ich stelle mir vor, wie Marie und die anderen den Weg mit ähnlichen Gedanken gezogen sind, wie sie in Frage 1 des Heidelberger Katechismus angesprochen werden: mit dem Vertrauen, dass es in Angst und Ungewissheit tatsächlich einen Trost gibt, der einen Namen trägt: Jesus Christus; mit dem Vertrauen, dass im Angesicht der Furcht, verloren zu sein und am Ende sogar Gott verloren zu gehen, Jesus Christus jede einzelne Faser des Lebens bewahrt; und mit dem Vertrauen, dass niemand sich selbst gehört und auf sich selbst zurückgeworfen wird, sondern dass er zu Jesus Christus gehört und dieser die Menschen „von Herzen willig und bereit [macht], ihm forthin zu leben“.

Gut möglich, dass solche Vertrauensgedanken denen Halt gaben, die auf der Flucht oder auf der Zuflucht nach Gott waren. Gut möglich, dass es das Bekenntnis von La Rochelle war, das ihnen Orientierung gab: dass Gott, wie es dort heißt, „über uns wacht mit väterlicher Sorge so, dass nicht ein Haar von unserem Haupt fällt ohne seinen Willen“ (Artikel 8), und dass „der Glaube […] nicht allein für einmal gegeben wird, um sie auf den guten Weg zu führen, sondern um sie auch darauf verbleiben zu lassen bis zum Ende“ (Artikel 21). Was fast zur gleichen Zeit in der Heidelberger Provinz und in der Metropole Paris als Bekenntnis formuliert wurde, klingt gut zusammen. Vielleicht hörten die Verfasser des Heidelbergers, die ja auch Flüchtlinge waren, sehr genau auf das, was in der französischen Nachbarschaft geglaubt und gesagt wurde. Sie teilten mit ihnen das Vertrauen, dass nicht die äußeren Lebensumstände, nicht Verfolgung, Heimatlosigkeit und Elend im letzten Grund über sie entscheiden, sondern ihre Zugehörigkeit zu Jesus Christus: „Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben Jesus Christus gehöre“.

Die Zuflucht von Marie Dubois auf sicheres Terrain ist Vergangenheit. Aber Worte wie die in Frage 1, die Menschen schon damals aufgerichtet und bestärkt haben, überspannen Zeiten und Räume und reichen hinein in unsere Gegenwart. Von der ersten bis zur letzten Frage ist der Heidelberger ein Text gegen die Ungewissheit und den Zweifel: gegen die Ungewissheit und den Zweifel, es könnte doch so sein, dass man von Gott nicht geliebt wird, dass Gott unbarmherzig ist, dass er Schuld nicht vergibt, dass man am Ende verloren geht und sich ins Nichts auflöst und alle Spuren des Lebens erst verblassen und dann vergehen. Auch Christen ist der Zweifel nicht fremd, ob es wahr ist, dass Gottes Wege weiter reichen als die je eigene Lebenszeit. Oft reicht die Hoffnung nur bis zur Grenze des Lebens, wenn überhaupt. Und danach: absolute Leere. Viele Menschen sehen das so.

Schon mit der ersten Frage rückt der Heidelberger das zurecht, was Menschen zuweilen zwischen den Händen zerrinnt: dass Gottes Treue und die seines Sohnes Jesus Christus im Leben und im Sterben – ja auch im Tod – nicht abbricht, sondern weiterreicht. Seine Treue reißt nicht ab, wo sonst alles abreißt: alle Gespräche, alle Zuneigung, alles Ausatmen und Einatmen. Ja, es gibt Grund zum Vertrauen, zum Hoffen und zum Lieben. Das geht mir schon in der ersten Katechismusfrage auf. Ich bin bei Trost, auch wenn mir das von Zeit zu Zeit nicht recht bewusst ist.

Dass es Grund zum Vertrauen und zum Hoffen gibt, ist wohl das erste, was einem bei der Lektüre von Frage 1 ins Auge sticht. Dass es aber auch Grund zum Lieben gibt, ist eine weitere Facette, die sich mir je länger je mehr in den Vordergrund drängt. Mir wurde das vor ein paar Wochen aufs Neue bewusst. Mit einer Gruppe Studierender bin ich nach Heidelberg gefahren. Dort haben wir uns die Ausstellung über den Katechismus und seine Entstehungszeit angesehen. Zwischendurch, bei Flammkuchen in der Altstadt, kam die Sprache auf den Trost von Frage 1. Nein, das klinge ihr zu negativ, zu traurig, zu sehr nach Lebensende und Todesnähe, äußerte eine Studentin: „Ich lebe doch heute, möchte glücklich sein und bin es auch!“ Das Wort Trost wirke auf sie allzu trüb, klinge nach Trostschokolade und Trostpflaster. Sie brauche etwas, das sie jetzt, mitten im Leben, stark macht, etwas, das sie in ihrem Christsein bei der Stange hält. Und so waren wir mit einem Mal beim Schluss von Frage 1: „Darum macht er mich auch durch seinen Heiligen Geist […] von Herzen willig und bereit, ihm forthin zu leben.“

So unterschiedlich kann man Frage 1 lesen! Nicht nur als Trostwort gegen den Gotteszweifel, nicht nur als Trostwort gegen die Ungewissheit über das Jenseits des Lebens, sondern auch als Worte gegen den Stillstand im christlichen Leben, als Worte, die an der Fortsetzung des christlichen Weges interessiert sind, als Worte, die besagen: Um Jesu Christi willen könnt ihr lieben statt hassen zu müssen, könnt ihr wertschätzen statt einander herunterzumachen, könnt ihr willig und bereit sein, im Sinne Jesu Christi zu leben! Mir sind dabei drei Beobachtungen wichtig.

Meine erste Beobachtung: Dass ein freies und zum Lieben bereitwilliges Leben gelingt, liegt nicht nur an mir selbst, sondern an einer Kraft, die mir wie ein Geschenk zuwächst: an Jesu Christi Geist. In ihm macht sich Jesus Christus in meinem Leben hier und jetzt gegenwärtig. Der ganze Heidelberger redet dieser Geistesgegenwart das Wort. Präsenz Gottes, Präsenz Jesu Christi dort, wo Menschen sich fragen, ob nicht doch alles Tun und Lassen, Lieben und Sorgen umsonst sei. Für mich verbindet sich das Vertrauen, dass Gott zur Stelle ist und Jesus Christus mich zum Leben „willig und bereit“ macht, mit der Geschichte von Jakob auf der Himmelsleiter (1. Mose 28,10ff.). Da zieht einer zurück in seine Heimat, legt sich nachts nieder und träumt: träumt von einer Leiter, einer schlichten Leiter. Auf ihr steigen Engel auf und nieder. Und Gott spricht zu Jakob, ja er verspricht ihm, dass er bei ihm sein und bleiben wird. An einem Wendepunkt seines Lebens reißt nachts der Himmel über Jakob auf. Auf seinen Weg nimmt Jakob das Versprechen Gottes mit: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst.“ Und sagt sich selbst: „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Himmel und Erde berühren sich. Bei Tag glaubt Jakob an die Möglichkeit, dass Gott eine entscheidende Seite seines Lebens ist. Die Jakobsleiter steht dafür, dass Gott seine Gegenwart allen verspricht: denen, die wie Jakob auf der Suche oder gar auf der Flucht sind. Und denen, die schon ihr Ziel gefunden haben.

Nicht wahr, liebe Gemeinde, bei der Fortsetzung unseres christlichen Weges – in welchem Lebensalter wir auch immer sein mögen – sehnen wir uns danach, dass Gott zur Stelle ist: manchmal überraschend, unvermutet, kraftvoll oder zart, aber in allem doch sehr verlässlich. Mein Leben und Lieben hat Grund, und dieser liegt darin, dass Gott heilsam zur Stelle ist. „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!“ Wir verdanken es seinem Geist, dass es mitten im ganz normalen Leben Gottesgegenwart gibt. Das ist das erste.

Meine zweite Beobachtung: Die Fortsetzung des christlichen Weges geschieht in einer Bereitschaft, die von Herzen kommt. Vielleicht ist das Herz ja nicht das Organ, das einem als erstes bei den Reformierten einfällt. Oft genug stehen der Verstand und das Erkennen so sehr im Vordergrund, dass diese fast zu einem Alleinstellungsmerkmal der Reformierten werden. Ganz falsch ist das ja nicht. Aber der Heidelberger rückt die Dinge zurecht. Schon vom Glauben sagt er, dieser sei beides: eine zuverlässige Erkenntnis, aber auch ein herzliches Vertrauen. Nicht das eine ohne das andere. Erkenntnis und die Bewegung des Herzens gehören zusammen und bilden eine Einheit. Ein Glaube, der nur ein bestimmtes Wissen über Gott hat, ohne eine Beziehung zu ihm zu haben, wäre kein wahrer Glaube. Und ein Glaube, der nur aus einer diffusen Religiosität ohne ein Nachdenken über Gott bestehen würde, wäre ebenso wenig wahrer Glaube. Darum bilden die Erkenntnis und die Bewegung des Herzens ein Zwillingspaar. So auch bei unserem Handeln: Lassen wir dabei nicht nur unseren Verstand, lassen wir auch unser Herz sprechen! Etwa wenn es darum geht, Menschen in Not menschlich und achtsam zu begegnen, Flüchtlingen bei uns eine Bleibe zu bieten statt sie vor der Festung Europa zu lassen. Für mich verbindet sich die Haltung, das Herz sprechen zu lassen, mit der Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25ff.). Er war mit Verstand und Herz bereit zum Helfen. „Es jammerte ihn“, steht im Evangelium, und Jammer ist ja geradezu eine das Herz zerreißende Regung des Menschen. Mit seinem barmherzigen Tun hat der Samariter ganz praktisch die Frage beantwortet, welchem Menschen er der Nächste war. Wo werde ich von Herzen willig und bereit, das Richtige zu tun? Wo bin ich gefragt, Nächster zu sein? Eins ist gewiss: Jesu Geist rührt nicht nur unseren Verstand, sondern auch unser Herz an, damit herzliche Spontanität und nicht kühle Berechnung unser Handeln leitet.

Schließlich meine dritte Beobachtung: Die Fortsetzung des christlichen Weges ist eine Sache von Dauer und ein Ausdruck der Nachfolge. Jesu Geist bewegt Menschen dazu, ihm nachzufolgen, und bewahrt ihr Leben vor Stillstand und Leere. Jesus Christus „forthin zu leben“ heißt dann auch, wegzukommen vom egomanischen Kreisen um sich selbst und zu einem Leben zu gelangen, das den anderen in den Blick nimmt, sich ihm zuwendet, ihm aufmerksam und wertschätzend begegnet. Leicht ist das nicht immer, ganz gewiss nicht. Gerade dann, wenn der andere es einem schwer macht, ihn zu achten und zu schätzen. Um den christlichen Weg fortzusetzen, um im Sinne Jesu Christi zu leben und das nicht nur hin und wieder einmal, ja, um Christ zu bleiben, braucht es und gibt es Hilfsmittel. Zwei davon sind dem Heidelberger besonders wichtig: die Gemeinde und das Gebet. Die Gemeinde macht mich stark und gibt mir den langen Atem, mich gemeinsam mit Anderen an Gott zu freuen. Gemeinde bricht die eigenen Grenzen auf, lässt uns einander begegnen. Gemeinde ist das, was es ohne sie nicht gäbe: Es gäbe kein gemeinsames Singen und Beten, keine Gespräche über den Glauben, kein gemeinsames Ringen um das richtige Tun. Ohne Gemeinde würde unser christlicher Weg womöglich ins Stocken geraten, mit ihr wird er begehbar und bunt. Und das Gebet? Als „wichtigste Gestalt der Dankbarkeit“ hilft es mir, mit Gott im Gespräch zu bleiben, ihm meine Unfähigkeit, das Richtige zu tun, in die Ohren zu legen, und nicht zuletzt Mut zu fassen, für das, worum ich bitte, mich auch selbst einzusetzen: um das tägliche Brot auf unserer Welt ebenso wie für die Vergebung untereinander. Wer von Herzen willig und bereit ist, Jesus Christus forthin zu leben, der zehrt von seinem Versprechen: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh 8,12)

Liebe Gemeinde, wie wäre es, diese drei Punkte zu Leitsätzen über unseren eigenen christlichen Weg zu machen: Vertraut Jesu Geist und lasst euch von ihm die Kraft zum Lieben schenken! Vergesst dabei das Herz nicht und seid barmherzig! Und vernachlässigt die Kraftquellen – die Gemeinde und das Gebet – nicht, damit ihr auf eurem christlichen Weg nicht ermattet!

Ich schließe mit einem Gebet des verstorbenen reformierten Theologen Rudolf Bohren:
„Du hebst uns zu dir empor, /
schenkst uns deine Fülle, /
gliederst uns ein in deinen Leib. /
Du erhörst unser Bitten. /
Wir schauen nicht auf das noch Unerfüllte. /
Deine Zusagen bleiben stärker als unser Nochnicht. /
Ja und Amen.”

 

 

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