Sabine Beuter

20. Oktober 2013

Predigt 3 über Frage 1 des Heidelberger Katechismus (PDF-Dokument, 99 KB)

Pfarrerin Sabine Beuter

 

Liebe Gemeinde, liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden,

In einem Leinenetui verwahrte meine Großmutter zusammen mit einer Bibel und einem
Gesangbuch den Heidelberger Katechismus.

Als Grundschulkind hatte ich vom Konfirmandenunterricht, der in einigen Jahren auf mich zukommen würde nur verschwommene Vorstellungen. Unser damaliger Pfarrer, zwar noch recht jung, hielt immer noch am traditionellen Auswendiglernen fest, entgegen den Neuerungen eines erfahrungsorientierten Konfirmandenunterricht in den 70iger Jahren. Der Katechismus würde mir nicht erspart bleiben.

Bibel und Gesangbuch sagten mir etwas, aber der Katechismus? Schon sein Name: Heidelberg, eine mir noch unbekannte Stadt in Süddeutschland, und dann dieses Fremdwort, das einem Zungenbrecher gleich kommt: Kat-e-chis-mus.

Im Sprachgebrauch meiner älteren Cousins und anderer bereits KU-erfahrener Jugendlicher hieß er „Katze-krieg-mich“. Das war ein lustiges Wort und machte mich neugierig.

Also holte ich die Katze aus dem Leinensack, um mir selbst ein Bild davon machen. Der HK war in gemustertes Packpapier eingeschlagen, um ihn vor Gebrauchsspuren zu schützen. Im Inneren entdeckte ich mit Bleistift geschriebene Anmerkungen und Unterstreichungen auf den bereits angegilbten Seiten. Beim Blättern folgte auf eine Frage mit Antwort wiederum eine Frage mit Antwort, schier endlose 129 Fragen und Antworten. Wie ein Katze- und Maus-Spiel.

Trotzdem faszinierte mich gleich die erste Frage: „Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?“

Diese Worte beeindruckten mich tief. - Vielleicht war es die Fremdheit der alten Sprache. Vielleicht die persönliche Zuspitzung der Frage. Vielleicht die Ahnung, dass es hier um etwas zutiefst Existentielles geht: Trost, Leben und Sterben, Leib und Seele…

Ich spürte: Diese Frage lässt die Katze aus dem Sack. –

Verstanden habe ich von der Antwort damals recht wenig, was leider der Konfirmandenunterricht auch nicht wesentlich änderte.- Da war die Katze wieder im Sack…

Die Antwort ist eine harte Nuss, auch für Erwachsene.

In wenigen Sätzen formuliert sie den christlichen Glauben. Das, was in den folgenden 128 Fragen entfaltet wird, steht hier sozusagen verdichtet in nuce. Im Kern sind hier schon alle wesentlichen Aussagen enthalten. Die Struktur der Antwort folgt dem Glaubensbekenntnis, aber mit vertauschten Rollen: Hier steht Jesus Christus an erster Stelle, dann Gott, der Vater im Himmel und wie immer, ‚last‘ und fast ‚least‘, der Heilige Geist. Hier soll Christus der Schlüssel zum Glauben sein.

In Erinnerung geblieben und berührt hat mich damals die Aussage: „dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt fallen kann, ja, dass alles zu meiner Seligkeit dienen muss“.

Die Frage 1 des HK trage ich seither als Nuss in meinem Lebensrucksack herum. Hin und wieder fällt sie mir in die Hände, zufällig beim Kramen in der Tiefe oder ich hole sie bewusst hervor.

Manchmal gelingt es, die Nuss weiter zu knacken und sie gibt etwas von ihren nahrhaften Kern frei. - Nüsse enthalten ja viele wichtige Stoffe, vor allem für das Nervensystem, für Herz und Blut und das Gehirn, darüber hinaus auch geballte Energie.

Die Frage 1 des HK gleicht einer Zaubernuss. Meistens reicht mir die Frage allein, um satt zu werden.

Die Frage selbst ist schon der Schlüssel zu ihrer Antwort.

„Wer, wie, was – wieso, weshalb, warum?“ – So lautet das Motto der Sesamstraße seit fast 45 Jahren. „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?“ - ähnlich fragt auch der Heidelberger Kate-chismus seit 450 Jahren. In 129 Fragen wird der christliche Glaube entfaltet: „Was ist? Woher weißt Du? - Wie lautet? - Warum muss? - Was nützt uns?“ Fragen über Fragen, „mehr Fragen als Antworten“.

Fragen ist eine Elementarform des Lernens, eine wichtige Voraussetzung zum Verstehen – „wer nicht fragt, bleibt dumm, manchmal muss man fragen, um zu verstehn“. Fragen stellen heißt neugierig sein, verstehen wollen. Fragen sind schon der erste und wichtigste Schritt zu einer Antwort oder neuen Erkenntnis.

Menschen sind zuerst und zutiefst fragende Wesen. Es gehört zum Menschsein, zu fragen. Kinder lernen fragend die Welt verstehen. Später werden wir leider ungeduldiger und meinen manchmal die Fragen überspringen zu können, um gleich zu den – vermeintlich – wichtigeren Antworten zu kommen. Auch Katechismusfragen sollten nicht bloß Mittel zum Zweck der Antwort sein, nur um den Anschein einer methodisch aufbereiteten Stoffvermittlung zu wahren. Leider wurden sie häufig nur als Abfragemethode verstanden. Dabei eröffnen Fragen erst einen Raum, in dem Antworten gefunden werden können, einen Raum, der Platz lässt zum Nachdenken und Gespräch, auch für Zweifel und Einsprüche. Fragen öffnen einen Frei-Raum.

In der Bibel ist interessanterweise die Schlange die erste Fragende. In der Paradieserzählung raunt sie zu Eva: „Ja, sollte Gott gesagt haben?“ Damit weckt sie Evas Neugier. Fragen haben Folgen – auch die Möglichkeit zum Irren und Scheitern. Aber: Fragen stellen dürfen, ist ein Zeichen von Freiheit.

Wo allerdings Fragen nicht erwünscht oder gar verboten sind, herrscht Unfreiheit: in Staaten, Gesellschaften, Gruppen, Beziehungen, sogar in religiösen und kirchlichen Kreisen. Wo
Unfreiheit herrscht, werden Fragen beschwichtigt, verpönt oder sogar mit Gewalt unterdrückt: Fragen nach demokratischen Grundrechten, nach Menschenrechten, nach den Kosten unseres Lebensstils. - Wo Menschen jedoch offen Fragen stellen können und sich darin auch ernst genommen fühlen, zieht der Geist der Freiheit ein. Wo Fragen gestellt und Antworten gesucht werden, da können sich Menschen entfalten und Verantwortung übernehmen.

In meiner Arbeit in der Ev. Berufsschularbeit stehen Fragen im Mittelpunkt. Unsere Lern-Gruppen sind meistens ganze Klassenverbände, sozial und kulturell gemischt, religiös eher distanziert, gleichgültig und unerfahren.

Um diese Gruppen miteinander ins Gespräch und ins Nachdenken zu bringen, über sich oder ein Thema, stellen wir unermüdlich Fragen. Fragen, die einen Freiraum zum Nachdenken jenseits von Zwängen der Schule und Arbeitswelt eröffnen. Dazu entwickeln wir ständig neue Fragen und Methoden und ich bin immer wieder erstaunt, wie die Schülerinnen und Schüler sich dadurch öffnen und ins Gespräch kommen.

Es sind sogenannte W-Fragen, Fragen, die wie ein Zauberwort wirken: „Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum?“ Es sind offene Fragen, im Gegensatz zu geschlossenen Fragen, die nur auf eine bestimmte Antwort oder auf Ja oder Nein hinlenken. Die meisten Fragen des HK beginnen mit „W“. Sogar einige, die eigentlich keine offene Fragen sind, wahren kurioser-weise den Schein, indem sie trotzdem mit „W“ beginnen: „Werden denn alle Menschen durch Christus gerettet?“ (Fr. 20) oder „Wäscht denn das Wasser unsere Sünden ab?“ (Fr.72).

Die Fragen des HK erinnert mich an Fragen junger Menschen: Was ist das, was soll das, was bedeutet das – und vor allem: was nützt das, was bringt das? Das sind Fragen, die das Leben verstehen wollen.

Der HK beginnt mit einer einzigen großen, offenen Frage. „Was ist dein einiger Trost im Leben und im Sterben?“ Was für eine Frage! Eine radikale Frage, die direkt an die Wurzel unserer ganzen Existenz führt: Was trägt, worauf vertrauen wir im Leben und im Sterben? – Da wird nicht ganz allgemein nach dem Sinn des Lebens gefragt. Radikal klingt diese Frage im wahrsten Sinne des Wortes, denn der Begriff ‚Trost‘ leitet sich von ‚trauen – vertrauen‘ ab, indogermanisch „treu“, das was Halt gibt, „festigt“, wie auch im Englischen ‚trust‘ mit dem ‚true‘ verwandt ist - und auch mit dem Wortstamm ‚tree‘, also das, was einen Baum festigt: seine wahren Wurzeln. Darum passt diese Frage gut zur Konfirmation, der Festigung des Glaubens. Worauf vertraust Du, was hält Dich, was sind deine Wurzeln?

Was für eine, einzige Frage, die in einem Satz das alles ausspricht, was uns im Innersten
bewegt und umtreibt! Eine Frage, die fast unerhört wirkt, weil sie so persönlich ist. Mit einer solchen Frage beginnt kein anderer Katechismus. Viele setzen bei Gott, mit der Gotteslehre oder mit der Schöpfung oder mit dem Glaubensbekenntnis an, um den christlichen Glauben zu entfalten. So wie der HK fällt keiner mit der Tür ins Haus: Was ist dein ein-z-iger Trost im Leben wie im Sterben…

Diese Frage nennt nicht einmal Gott, gibt keine Vorgabe des Glaubens. Sie klingt nicht einmal religiös gefärbt. Darum ist Frage 1 die eigentlich einzige wirklich offene Frage im Heidelberger Katechismus. Zu einer guten offenen, öffnenden Frage gehört nämlich auch, dass sie möglichst konkret fragt: „Was ist DEIN Trost?“

Wenn wir diese Frage hören oder lesen, sind wir direkt angesprochen; nein, eigentlich nicht einmal wir. Hier wird jede und jeder einzeln für sich gefragt: „Was ist DEIN Trost?“ - „Was ist MEIN Trost?“ Ich werde als Individuum wahrgenommen. Auch die Antwort setzt dort gleich wieder ein: „dass ICH mit Leib und Seele, beides….“ Ich, mit meinem Körper und meiner Seele, bin gemeint, als ganzer Mensch, in meiner ganzen Existenz. – Ich darf „Ich“ sein und sagen. Dort, wo ich als Ich angesprochen werde, kann ich auch Ich sein.

So redet Gott in der Bibel die Menschen an: mit ihrem Namen: „Mose, Mose!“, „Fürchte dich nicht, Maria…“ Und sie antworten mit Ich: „Hier bin ich“, „Siehe, ich bin des Lebendigen Dienerin“. (Ex 2,15 und Lk 1,30+38) „Fürchte dich nicht, ich habe Dich bei deinem Namen gerufen, Du bist mein.“ (Jes 43,1)

Das ist die große Stärke dieser ersten Frage: Indem sie direkt anspricht, indem sie mich nach meinen Trost, im Leben wie im Sterben, fragt, nimmt diese Frage meine unausgesprochenen Fragen auf. Ich werde angesprochen als Subjekt meines Lebens und meines Glaubens. Das „ICH“ trägt Verantwortung, kein allgemeines „man“ Gerede.

Die Frage 1 nimmt mich ernst und eröffnet ein Gespräch auf Augenhöhe. Schon darin liegt Trost: angesprochen sein, Gehör finden, verstanden und ernst genommen werden. Die Frage hält mir einen Spiegel vor, in dem ich mich selber so anschauen kann wie ich bin. - Spiegeln ist eine Methode der Gesprächsführung und der Seelsorge, die nicht zuerst auf eine tröstliche Antwort abzielt, sondern auf das Verstehen des Gegenübers. Durch das Spiegeln des Gehörten, das Wiederholen und Bündeln des Gesagten mit anderen Worten, fühlt sich das Gegenüber verstanden.

Ähnlich spiegelt Frage 1 unsere tiefsten Fragen, Gefühle, Hoffnungen: nämlich, dass es
wenigstens einen Trost geben möge, im Leben und im Sterben. Etwas, dass mein Leben hält, zusammenhält, auch wenn ich scheitere, auch wenn mehr als die ersten Haare vom Kopf fallen und es mir an den Kragen geht. Gibt es etwas, das größer ist als meine Erfahrungen, größer als alle Erfahrungen und Wissen, ja das gerade dann trägt, wenn ich keinen Sinn und Halt finde? Gibt es nicht wenigstens einen Trost, der stärker ist als der Tod? Indem die Frage 1 meine eigenen Fragen ungeschminkt spiegelt, führt sie ein seelsorgerliches Gespräch mit mir.

Die Frage spiegelt jedoch nicht nur, sie bündelt auch meine Erfahrungen: „Einiger Trost“ formuliert die vorhin gehörte ältere Fassung des HK. Ich finde dieses Wort erhellender als einzig. Einzig klingt exklusiv, ausschließlich, hart. Es verkleinert und verneint die anderen positiven, Halt gebenden Erfahrungen im Leben. Wäre das Leben nicht arm, wenn es immer nur einen einzigen Trost gibt? Sollten wir Gott so kleinlich denken? Alle tröstenden Erfahrungen im Leben und auch im Sterben werden dagegen geeint und hineingenommen in diesen einigen großen Trost.

Auch Leben und Sterben werden geeint. Das Sterben gehört zum Leben, der HK denkt Leben und Sterben zusammen. - Diese Beziehung wird oft verdrängt, an den Tod denken wir nicht gerne. Seit mehrheitlich anonym in Krankenhäusern und Heimen gestorben wird, wächst
allerdings auch wieder die Frage nach menschenwürdigerem Sterben.

Und schließlich: Der einige Trost macht mich ganz, heilt mich: eint Körper und Seele. Es geht nicht nur um die Seele, um das Seelenheil, sondern um den ganzen Menschen, „Ich mit Leib und Seele, beides“.

So hebt der einige Trost den Gegensatz, den Dualismus von Leben und Tod, von Körper und Seele auf, ja selbst von Gott und Mensch. In der Antwort gibt das Wortspiel ‚einig und eigen-sein‘ den Hinweis: „Dass ich…. nicht mein, sondern meines getreuen Heilandes Jesu Christi eigen bin.“

In Jesus wurde Gott Mensch, uns zu eigen. Als Jesus zu eigen bleibe ich nicht einsam alleine mit meinen Empfindungen, Gedanken, Erfahrungen. Ich bin kein Narziss, der nur selbstverliebt in sein eigenes Spiegelbild blickt. Der HK hält mir einen anderen Spiegel vor: das Leben und Werk Jesu, Gottes Wort, Verheißung und Bewahrung, die Kraft des Heiligen Geistes.

Ich kann es als neue Perspektive verstehen: Ich lerne mich aus einem anderen Blickwinkel neu sehen und kennen, erkenne mich im Gesicht des Menschensohnes, der meine Fragen, Zweifel, ja selbst Schmerzen und Gottverlassenheit selbst erfahren hat: In der Geschichte Gottes mit den Menschen, im Menschensohn Jesus von Nazareth kann ich mich wiedererkennen, neu erkennen, kann mit mir leben lernen, mich mit mir versöhnen lassen und mit meinen Fragen wachsen. In diesem Spiegel kann, ja muss ich immer wieder Fragen stellen: Was hat diese Geschichte mit meinem Leben zu tun, wo kann sie mich befreien, ja, wie kann mir alles zu meiner Seligkeit dienen? Das ist ein lebenslanges Lernen. Ein lebenslanges Durchbuchstabieren. Ein lebenslanges Nüsse- knacken. Manchmal hart, manchmal leicht.

Tröstlich ist es, diese Nuss im Lebensrucksack zu haben, die Frage nach dem Trost und ihre konzentrierte Antwort. An den Knackpunkten des Lebens kann ich Kraft daraus zehren. Und sei es, dass ich sie ‚nur‘ lese, höre, bete.

Tröstlich ist auch, dazu einen Beistand zu spüren: Der Heilige Geist. Die Antwort auf Frage 1 beschreibt ihn ein wenig freudlos: wie einen Versicherungsagenten, der mich willig und bereit macht, den Vertrag zu unterschreiben und auszuführen. Dabei ist doch der Heilige Geist, der Atem Gottes (ruach) der eigentliche Tröster (Joh 16,7ff) und als der heimliche Autor von Frage 1 zu verstehen: „Der Geist … hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten (fragen) sollen, sondern der Geist selbst vertritt uns mit unaussprechlichem Seufzen.“ (Röm 8, 26) Das fällt dem HK leider erst später ein: „Der Heilige Geist ist mit dem Vater und dem Sohn der eine wirkliche, ewige Gott. Er ist auch mir gegeben und gibt mir durch wahren Glauben Anteil an Christus und allen seinen Wohltaten… Er tröstet mich und bleibt bei mir in Ewigkeit.“(Frage 53) Und: er bewirkt in mir (Frage 90) „herzliche Freude in Gott durch Jesus Christus und Lust und Liebe, nach dem Willen Gottes in allen guten Werken zu leben.“

Amen.

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