Adventsblog 22.12.2020

Das „Wir" schwächelt

22.12.2020 | ADVENT 2020 | Michael Hartmann

Stern auf dem Handy

© EAzB/A.Czekalla

Das „Wir“ schwächelt ein wenig, das Jahr war für uns alle anstrengend, viele sind müde geworden und wir alle brauchen in dieser Hinsicht wohl auch die Nachsicht der anderen. Dennoch haben wir zugleich im Frühjahr mitansehen müssen, was in Bergamo und New York City geschehen ist, welches Leid die Überlastung der Kliniken in die Mitte der Gesellschaft getragen hat. „Wir“ waren es von da an, die aufgerufen waren und sind, die basalen Regeln des Respekts vor den Verletzlichen unter uns zu praktizieren. Bei einer Naturkatastrophe wäre das als selbstverständlich erschienen, doch die Unsichtbarkeit der Bedrohung in der Pandemie macht es ungleich schwieriger.

Meine Familie hätte gern die Hochzeit unseres Sohnes und unserer Schwiegertochter im Sommer gefeiert. Es wurden eine kleine Zeremonie im Standesamt und die Verabredung, eine kirchliche Trauung bald nachzuholen. Das war nicht wirklich schwer. Am dritten Advent rief mich ein guter Freund an, auf dem Weg zu seiner Mutter in Thüringen, für die eine hoffentlich lebensrettende Operation anstand. Dass diese Operation überhaupt ermöglicht wurde, ist in diesen Zeiten Anlass für eine besondere Dankbarkeit. Zugleich ist diese Situation verstörend, weil sie eben nicht so schicksalhaft ist, wie sie anmutet.

Die Regenbogenpresse ereiferte sich über den angeblich unangemessenen Ton des Berliner Regierenden Bürgermeisters angesichts dichten Gedränges allerorten in unserer Stadt. Zu Unrecht: Die Verbreitung von Covid-19 ist nun einmal mit dem Auftreten von bedrohlichen Krankheiten, wie wir sie kennen, nicht zu vergleichen. Eingriffe in das soziale Leben sind bei Pandemien unvermeidlich. Gemeinwesen haben seit jeher mit derlei gesundheitlichen Bedrohungen umzugehen gelernt. Bereits im frühen 19. Jahrhundert hat London als damals größte Stadt der Welt gezeigt, wie lokale Cholera-Ausbrüche wirksam unterbunden werden konnten.

Was geschieht, wenn unser Handeln der Not der anderen nicht folgen mag? Meine Enkelin im Kita-Alter wurde inzwischen mehrfach von jungen Bundeswehrsoldaten auf eine Covid-Infektion getestet. In Spandau halfen sie im Gesundheitsamt, anderswo in der Stadt war dieses nicht erwünscht. Solidarität im öffentlichen Raum ist in Südostasien nicht erst von autoritären Regierungen verordnet worden, sie ist Teil der zivilgesellschaftlichen Kultur. Man könnte es mit konsequentem Tragen der Maske und einer GPS-basierten Tracking-App für Mobiltelefone ja einmal auf Zeit versuchen. Das würde den Gesundheitsämtern, jedoch weder Google noch Facebook, helfen. Der Staat wäre nicht gleich ohne Kontrolle und Checks and Balances. Der am dritten Advent beschlossene Lockdown wird wohl allein nicht zur Rückgewinnung der Handlungsfähigkeit von Kliniken und Gesundheitsämtern führen. Unser Gemeinsinn und unsere Nächstenliebe sind nun besonders gefordert. Ausdruck dieser Nächstenliebe ist besonders in den kommenden Monaten die bedachte Sorge füreinander, gerade auch beim Feiern der Generationen an Weihnachten.

Dass es weltweit gleich mehrere Impfstoffe an der Schwelle zur Zulassung gibt, ist nach weniger als einem Jahr Pandemie ein großer Erfolg der Forschung, eine Leistung der Menschheit. Es ist uns ein großes Geschenk und gibt Anlass zu Hoffnung und Optimismus für das neue Jahr. Das sollte uns jetzt motivieren, weiter Acht aufeinander zu geben und sich darin nicht irre machen zu lassen.

Michael Hartmann hat Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie Theologie studiert und ist Studienleiter für Wirtschaft und Soziales an der Evangelischen Akademie zu Berlin.

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