beobachtungen in einer veränderten Welt 10

Die Krise als Chance?

Beobachtungen in einer veränderten Welt 10 – Michael Hartmann

© EAzB

Wird die Krise zu neuen Einsichten und sozialen Kompetenzen führen? Michael Hartmann befürchtet vielmehr, dass die wirklich einschneidenden Folgen noch ausstehen. Er sorgt sich um Europa und die wirtschaftliche Freiheit und plädiert für mehr Zutrauen in die Zivilgesellschaft und die Verantwortung der Einzelnen.

Europa: Man muss sich Sorgen um den europäischen Zusammenhalt machen. Er ist allerdings nur in einem gegenseitigen Ausgleich zwischen Nord- und Südinteressen in der Union zu finden. Und in einem Vertrauen auf die zur Verfügung stehenden Instrumente und in die Substanz der Europäischen Verträge. Die Politik im Rettungsmodus darf nicht alles über den Haufen werfen und auch nicht jeden Tag ein neues Instrument erfinden.

Der Staat und die wirtschaftliche Freiheit: Man muss sich Sorgen um die Marktwirtschaft machen. Sie hat nach dem Krieg in unserem Land viel gesellschaftliche Wohlfahrt möglich gemacht. Momentan steigen die Erwartungen an den Staat und seine Hilfeleistungen. Was geschieht, wenn diese an Grenzen stoßen? Was wird in Zukunft aus dem derzeit ausgeweiteten Mandat des Staates? Es gibt berechtigte Sorgen um soziale und wirtschaftliche Freiheitsrechte. Deswegen darf es keinen Überbietungswettbewerb bei Maßnahmen des Staates zur Rettung der Wirtschaft geben. Die Hypotheken für die Zukunft und für uns folgende Generationen müssen im Blick bleiben.

Krisenkommunikation: Der entscheidende Bewährungsmoment für politische Führung kommt erst noch. Das gegenseitige Schulterklopfen, verbunden mit den großen Hoffnungen in der Bevölkerung, muss beunruhigen. Mit dem Andauern des Lockdowns verschärfen sich die ökonomischen und sozialen Krisenfolgen. Die Pandemie und die uns bevorstehende Rezession bergen gleichermaßen destruktive Kräfte, die leicht unbeherrschbar werden können. Es gibt inzwischen vielleicht schon zu viele Szenarien und Experten für den Exit. Und On-Off Restriktionen müssen unbedingt vermieden werden. Bei der Abwägung der jetzt zu treffenden Entscheidungen und Schritte hinsichtlich des Shutdowns und/oder Exits sind wir mehr denn je auf den Rat der Expert(inne)n angewiesen. Wir sollten aufmerksam zuhören. Philadelphia 1918 muss eine Warnung sein: Die Krisenkommunikation der Regierung und der Institute sollte auch deswegen wesentlich stärker auf Eigenverantwortung setzen.

Ein gewagter Blick in die Zukunft: Der Staat kann nicht jeden Betrieb retten und die Ausgaben für Arbeitslosigkeit werden mittelfristig steigen. Viele neue Subventionsmodelle tauchen auf, das Niedrigzins-Konjunkturprogramm der letzten zehn Jahre hat viele Unternehmen am Ausscheiden aus dem Markt gehindert, die Strukturbereinigungen finden nun beschleunigt statt. Der zunehmende Protektionismus macht es nicht einfacher: Wenn die Lieferketten abgeschnitten und neu ausgerichtet werden, bedeutet das bei uns steigende Verbraucherpreise und Inflation. Für die Schwellenländer und den globalen Süden kann sich das zu einer Katastrophe auswachsen.

Was ich derzeit erlebe, ist, dass sich bei Freiberuflern und Selbständigen zunehmend Verzweiflung breit macht. Was ich an Schweden interessant finde, ist, dass die Verantwortung der Einzelnen betont und ihnen etwas zugetraut wird. Aber das ‚Volksheim‘ hat eine andere staatsbürgerliche Kultur entwickelt als wir. Manche sehen bei uns zu viel Obrigkeitsdenken aufziehen. Was die Bundeskanzlerin bislang macht, ist: rational zu bleiben und klar zu kommunizieren. Selbst die New York Times führt die geringere Sterberate in Deutschland auf Merkels Autorität zurück. Zum Lob für die Bevölkerung müssen aber in Zukunft ein dezidierter Ruf in die Verantwortung des Einzelnen und das Zutrauen in die Zivilgesellschaft kommen.

Die Erwartungen an den national gut funktionierenden Vorsorgestaat dürfen nicht weiter wachsen. Wir sollten unsere Verantwortung für Europa und andere Weltregionen im Blick behalten. Wir werden alle für den Kampf gegen das Virus zahlen müssen. Die Notenbanken werden nicht unbegrenzt Anleihen aufkaufen können, irgendwann werden die Bilanzsummen einen Punkt erreichen, an dem die Märkte das Vertrauen verlieren. Niemand weiß, wann das geschehen wird und besser wäre es, diesen Punkt niemals zu erreichen.

Bischof Christian Stäblein hat in einem Essay im Tagesspiegel geschrieben, dass er gerne gegenüber denen, „die die Krise zur Chance ausrufen, noch bevor sie überhaupt durchgestanden ist“, festhalten möchte, das unsere Welt nicht zuletzt durch den Verlust vieler Menschen zunächst einmal ärmer geworden ist. Auch an dieser Erkenntnis können wir wachsen.

Dr. Michael Hartmann

Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.

Dr. Michael Hartmann

Studienleiter Wirtschaft und Nachhaltigkeit

Telefon (030) 203 55 - 504

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