Beobachtungen in einer veränderten Welt 19

Zeiten des Haderns

Beobachtungen in einer veränderten Welt 19 - Paul Nolte

Corona-Blog Nolte

© EAzB

Unruhe herrscht im Land. Gibt es nur dummen Protest auf der einen, und Schafsgefolgschaft auf der anderen Seite? Paul Nolte ist überzeugt: Wir begehen einen großen Fehler, wenn wir die aktuellen Konflikte, Zweifel und Zerrissenheiten an den Rand drängen oder dem politischen Extremismus überlassen.

Was ist das für eine Lage, in der wir uns befinden! Gewiss, den meisten geht es gut, zumal in Deutschland. Aber müssen wir deshalb unsere Ansprüche ermäßigen, oder schweigen? Es ist ein Skandal, dass Kinder nicht zur Schule gehen können, dass Frauen wieder in die Familienarbeit gedrängt werden, dass unser Kulturleben austrocknet. Nein, keine Verschwörungstheorie, keine populistische Randale. Den Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus lagen Fakten zugrunde, und die sie beschlossen haben, taten das in sorgfältiger Abwägung. Aber gibt es denn keinen Raum zwischen dummem Protest und Schafsgefolgschaft? Ist es nicht selbstverständlich, aufgewühlt zu sein, Fragen zu stellen, mit der Lage und mit sich selber im Unreinen zu sein? Es ist eine Zeit des Haderns.

Hadern – ein seltsames, ein fast ausgestorbenes Wort. Altmodische Sprache, biblische Sprache: Besonders im Alten Testament kommt das Wort vor, in neuen Übersetzungen tritt „streiten“ an seine Stelle, aber das ist etwas anderes. Hadern, das ist kein selbstbewusster Streit, sondern das Ringen mit etwas. Hadern, das ist mit Zweifeln getränkt, auch mit Selbstzweifeln. Für diese menschliche Grundverfasstheit, die viele von uns in diesen Tagen spüren, gibt es überhaupt kein anderes oder besseres Wort. Wir hadern mit uns selbst, wir hadern mit der Situation. Wir hadern mit anderen, weil wir uns bohrend fragen, ob sie die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Menschen hadern, auch biblisch, mit Gott. Sogar Gott hadert mit den Menschen – aber „er wird nicht für immer hadern“ (Ps 103, 9). Hadern ist Zerrissenheit: in der Sache, um die es geht, aber auch in der Ambivalenz des Haderns selber. Irgendwie ist das nicht gut, man soll besser nicht hadern; selbst Gott wird sich wieder beruhigen. Und doch ist das Hadern menschlich und gehört zum Leben dazu, gerade in Krisen, in persönlichen wie in gesellschaftlichen.

Aber was nützt es, sich mit Zweifeln zu plagen? Folgt daraus Unentschlossenheit, die Ausweglosigkeit Hamlets, die tiefe Depression? Das Hadern kann eine produktive Kraft entfalten, wenn wir es zulassen – und wenn wir es nicht in uns hineinfressen, sondern mit anderen teilen. Theologisch würde man sagen: auch mit Gott teilen; gesellschaftspolitisch aber: das Hadern mit anderen teilen, es diskursfähig machen. Wir begehen einen großen politischen Fehler, wenn wir solches Hadern, solche Konflikte, Zweifel und Zerrissenheiten an den Rand drängen oder dem politischen Extremismus überlassen. Die Konflikte über den richtigen Weg in der Corona-Krise und aus ihr heraus müssen wir innerhalb der demokratischen Gemeinschaft austragen. Selbstgerechtigkeit und Besserwisserei gegenüber politischen Entscheidungen sind fehl am Platz; hadern und zweifeln sind, wie gesagt, untrennbar verbunden. Aber hadern sollten auch demokratische Politiker, und vielleicht etwas mehr: uns ihr eigenes Hadern, ihr Ringen mit der richtigen Entscheidung offenlegen.

Hadern ist nicht nur menschlich, sondern geradezu konstitutiv für die Konfliktfähigkeit einer Gesellschaft: als kritische Selbstbefragung widerstreitender Positionen, die sich nicht in die eine oder andere Richtung glatt auflösen lassen. Hadern wirkt krumm und schwach, aber am Ende erlaubt es den aufrechten Gang.

 

Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin und Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin.

 

Nolte, Paul 2020

Prof. Dr. Paul Nolte

Präsident der Evangelischen Akademie zu Berlin

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