Staffa zum 8. Mai

Vergegenwärtigungen zum 8. Mai

© EAzB / Karin Baumann

Wenn uns die Kinder fragen, meint Christian Staffa, müssen wir Geschichten auch oder besonders am 8. Mai erzählen von Schuld, von Versagen und Widerstand. Das wären Geschichten, die zur Achtung der Unversehrtheit des Anderen und zu Verantwortung leiten.

„Wenn dich nun dein Kind morgen fragen wird: Was sind das für Weisungen (in der Übersetzung von Buber/Rosenzweig: ‚Vergegenwärtigungen‘) Gebote und Rechte, die euch unser Gott, geboten hat?, so sollst du deinem Kind sagen: Wir waren Sklavinnen und Sklaven des Pharao in Ägypten, und Gott führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand; und der Gott tat große und furchtbare Zeichen und Wunder an Ägypten und am Pharao und an seinem ganzen Hause vor unsern Augen und führte uns von dort weg, um uns hineinzubringen und uns das Land zu geben, wie er unsern Vätern geschworen hatte. Und Gott hat uns geboten, nach all diesen Rechten zu tun, dass wir unsern Gott achten, auf dass es uns wohl gehe unser Leben lang, wie es nun am Tag ist. Und das wird unsere Gerechtigkeit sein, dass wir alle diese Gebote tun und halten vor unserm Gott, wie er uns geboten hat.“ (5. Mose 6, 20-25)

 „Dass es uns wohl gehe unser Leben lang“. Da stockt uns aus verschiedenen Gründen der Atem. Da ist unsere Geschichte, in der gerade auch deutsche Christenmenschen dieses Wohlergehen nur sich zusprachen und anderen: Juden, Jüdinnen, Roma und Sinti, Polen und Russinnen absprachen – bis hin zum Mord. Da ist die Gegenwart, in der immer noch Rassismus und Antisemitismus leben; zum Glück unter Christ*innen nicht so breit getragen, aber eben doch immer noch zu breit.

Und da ist dieser Text, der zunächst nicht unser Text ist, sondern eine Erfahrung Israels. Etwas plakativ könnten wir sagen, wir sind die Nachkommen der Pharaonen, denen dieser Text zum Hören einer anderen Erfahrung zugesprochen wird.  Was also können wir vor diesem Hintergrund antworten, wenn unsere Kinder, wenn die nächsten Generationen uns heute oder morgen fragen? Wie können wir fragen, wie könnten wir antworten?

Wir lernen, dass und wie Israel die Befreiung aus Ägypten über die Zeiten als gegenwärtig versteht. Jede Generation wird von der nachfolgenden Generation befragt und antwortet mit: „Wir waren Sklaven…“ Der zeitliche Abstand wird größer, und doch soll sich jede Generation als aus Ägypten befreit verstehen. Die Gebote, Vergegenwärtigungen und Rechte erfüllen die Aufgabe, Freiheit und Gerechtigkeit, die Ziele dieser Befreiung aus Ägypten waren, zu erhalten. Sie dienen dazu, die Herrschaft Gottes zu erhalten und damit die Herrschaft von Menschen über Menschen auszuschließen oder zu bekämpfen, mindestens aber einzudämmen.

Das ist biblisch auch eine Botschaft an die Pharaonen und ihre Nachkommen, die sich für den 8. Mai in großer Demut und mit Folgen vergegenwärtigen lässt.

Freiheit und Gerechtigkeit Gottes, darum geht es in jeder Generation, die Sklaverei, also die Ungerechtigkeit vor Augen. Jede Generation geht diesen Weg mit, mit der Übernahme der hebräischen Bibel und damit mit der Erfahrung Israels als Kriterium für eigenes Handeln auch wir. Wir gehen diesen Weg mit, um nicht in den so verführerischen und gewaltförmigen Konkurrenzkampf um Reichtum, Liebe, Macht, um das „Ich bin besser als du“ zu verfallen. Um sich nicht abzufinden damit, dass der Fremde drangsaliert wird, der Nachbar zum Feind wird, das Recht zum Unrecht für die Armen, Witwen und Waisen. So gedenkt Israel praktisch der eigenen Befreiung, in dem es Freiheit und Gerechtigkeit zum Schutz jeden Lebens für sich und die Fremden als Richtlinie der Weisungen und Satzungen umzusetzen versucht. Wir wissen, dass Israel dabei auch Mühe hatte, abfiel von den Geboten. Aber wir wissen auch, dass diese unbedingte Verpflichtung zum Schutz des Lebens einer der Gründe wurde, warum der Nationalsozialismus mit seiner Lebensfeindlichkeit das Judentum auszurotten versuchte. Dass die Kirchen dies nicht gesehen haben, ja dass sie nicht der eigenen Botschaft, sondern dieser Religion des Todes folgten, gehört zu den schmerzhaftesten Erfahrungen des christlichen Glaubens, die abzuwehren so sinnlos wie inzwischen nicht mehr ganz so üblich ist.

Um so eher ist es ein Wunder, dass wir diesen Text noch hören können, können wir ihn hören? Wir dürfen ihn hören, obwohl der Tod nicht zuletzt ein christlicher Meister aus Deutschland war, der Shulamits Haare und ihr Leben genommen hat. Es wäre ja viel vorstellbar gewesen, an möglichen Strafen für die Beteiligung am Morden, für das frohe Begrüßen des Nationalsozialismus als endlich neuer Geist, für den nun kräftiger gebetet werden muss, dessen Boykott jüdischer Geschäfte am 1.April 1933 vor dem Ausland als berechtigtes deutsches Interesse gegen das Überhandnehmen der Juden im Handel von dem damaligen Generalsuperintendenten Dibelius verteidigt wurde. Viel an biblischen Strafen wäre möglich gewesen, bis hin zum Tod. Und tatsächlich haben ja viele Deutsche, weniger die Judenvernichtung aber doch die deutsche Kriegspolitik mit dem Leben bezahlt. Aber gerade wir Christen, die gegen die eigenen Grundlagen, gegen die biblische Orientierung so eklatant verstoßen haben, hätten ja auch enterbt werden können: Gott hätte nach doch einer geraumen Zeit Geduld mit den Kirchen zu der Einsicht kommen können, dass wir das Evangelium, die befreiende Botschaft doch nur gegen andere und offenkundig allzumal gegen das jüdische Volk verwenden können. Dass wir heute diese Texte aus der hebräischen Bibel und dem neuen Testament noch lesen dürfen, ist also gar nicht selbstverständlich.

Und das wäre wohl das erste, was zu sagen wäre, wenn unsere Kinder uns heute oder morgen fragen: Was sollen denn Gottesdienste, was die Gedenktage, was soll das Holocaust-Mahnmal, was ist der 8. Mai christlich gesehen, wo sind die Orientierungspunkte christlicher Existenz? Von dieser Schuld zu erzählen ist nicht so einfach in einer Zeit, die von Schuld nur in der monströsen Form vergangenheitsbezogen – Auschwitz ist das Böse - oder eben nicht zu reden weiß. Wenn aber nicht von Schuld zu reden wäre, dann ist das Reden von der Gnade, dem Leben-Dürfen auch nicht zu verstehen. Stumpfheit gegenüber Schuld und Verfehlung lässt Gnade und Bedürftigkeit, lässt das Leben verschwinden.

Wenn uns die Kinder fragen, werden wir also Geschichten erzählen müssen, Geschichten von Paulus, der die Jesus-Gemeinde öffnete für die Nicht-Juden, von der frühen Kirche, die es als großen Angriff erlebte, dass es Juden überhaupt noch gab. Und die Geschichten der Verfolgungen der Juden durch die Jahrhunderte. Auch die Begeisterung so vieler Christen in Deutschland und der meisten Kirchenleitenden Menschen für den Nationalsozialismus sollte in dieser Geschichte beschrieben sein. Es tut weh, diese Geschichten zu erzählen. Und dann – nicht, um den Schmerz zu umgehen, sondern um die Geschichte nicht halb zu erzählen - muss dann auch von den anderen Christenmenschen erzählt werden, die dem nicht folgten. Sei es im 18. Jahrhundert Philip Spener, ein wahrhaft frommer Mann, der sagte: Wie könnten wir diesem Gott vertrauen, wenn er seine Zusage an das Volk Israel nicht einhalten würde, wenn sie nicht sein Volk wären, wie er versprochen hat. Könnten wir Christen dann noch auf Gott vertrauen, dass er seine Zusage an uns aufrecht erhält? Ohne Judentum kein Christentum!

Es wäre zu erzählen von den wenigen, so von Marga Neusel, die immer und immer wieder die Kirchenleitung drängte, etwas für die Rettung der Juden im NS-Deutschland zu tun. Es wäre zu erzählen von Wilm Hosenfeld, dem Offizier, dem Roman Polansky ein Denkmal in seinem Film „Der Pianist“ gesetzt hat. Jener Offizier, der aus christlichen Motiven Wladyslaw Spylman rettete im zerstörten Warschau. Es wäre zu erzählen von Lothar Kreyssig, dem Gründer von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, der die Euthanasieverantwortlichen anklagte, dafür aus dem Dienst entlassen wurde und weiter für die Bekennende Kirche arbeitete. Es wäre zu erzählen von Gertrud Kurz, die Juden in die Schweiz zu holen vermochte und so rettete, oder von Helge Kohlbrügge, die Ähnliches in den Niederlanden tat.

Es wäre aber wiederum zu erzählen, wie schwer es den Kirchen nach dem Krieg war, nach dem Völkermord an den Juden, den Roma und Sinti und dem millionenfachen Morden an den slawischen Völkern, darüber zu sprechen. Wie wenig oder wie wenigen es wirklich gelungen ist, das Gespräch mit den Überlebenden und deren Kindern zu suchen, wirklich hören zu wollen und das Gehörte dann auch auszuhalten und in eine Praxis der Antwort, eine Antwort in kirchlicher und gesellschaftlicher Praxis umzusetzen zu versuchen. Das wäre dann Ver-Antwort-ung, von der heute so gerne gesprochen wird. Es ist eben auch eine Verantwortung für die Vergangenheit, wie sie sich im Gegenüber zeigt. Das Rettende an diesen Geschichten ist, dass es Menschen gegeben hat, die sich von der Menschenliebe Jesu Christi haben anstecken lassen, dass Kirchen spät zwar, aber doch sich diesen Fragen mit Antwortversuchen gestellt haben. Rettend ist nicht zuletzt, dass es Überlebende gab und gibt, die das Gespräch mit uns suchen, Fragen und Ver-Antwort-ung von uns erwarten. Schwer auszuhalten ist, dass wir hier bleibend auf der Suche sind, weil es kaum eine angemessene Antwort auf die Kriegsbegeisterung der Kirchen, auf die  Vernichtung der Juden, der Roma und Sinti und Millionen von anderen Menschen gibt.

Es bleibt eine Erzählung mit gebrochener Stimme, die verweist auf die Hilflosigkeit von Gedenktagen und Mahnmalen, die nötig aber nicht alles sind.

Aber den Kindern zu sagen bleibt doch, dass wir gedenken, um der geschenkten Freiheit nachzugehen, zu fragen nach der Verwicklung unserer Kirche, unserer Gesellschaft und eben die Freiheit und Kraft, diese gebrochene Erzählung, den Schmerz des eigenen Versagens auszuhalten. Zu fragen, ohne Verweis auf eigenes Leid, das in den Wettkampf des Leidens führen kann. Wir sind von Rechtfertigungszwängen befreit durch die Gnade Gottes, wir können offen aus- und ansprechen, was geschehen ist, auch dass wir den Abgrund, jenen Graben nicht überschreiten können, dies anzuerkennen, davon sollten wir den Kindern erzählen.

Nach weltlicher Art ist dies den Menschen ein Gräuel, offenkundig schlecht für ein kollektiv oder gar national verstandenes, vollmundig patriotisch daherkommendes Selbstbewusstsein. Ungebrochen von der eigenen Identität sprechen zu wollen, das ist nicht Gegenstand unserer Erzählung. Gerade in dem Gebrochenen und Suchenden, das Eigene wie das Fremde verstehen wollend, im Wissen darum, dass manche Antworten die Fragen nicht treffen können und es immer neu zu versuchen, im Wissen darum, dass unsere Sprache nicht an das Geschehen heranreicht und wir doch darüber erzählen müssen. Darin liegt doch die Freiheit, die in der Solidarität mit den Gebrochenen sich findet, die Jesus gelebt hat und in der er gestorben ist.

Das wären dann Geschichten, die zur Zärtlichkeit ermuntern, zur Achtung der Unversehrtheit des Anderen an Leib und Seele, also zu einer auch christlichen Möglichkeit zu antworten, zu Ver-Antwort-ung - das könnte doch am 8. Mai sein.

Dieser Text steht unter CC-0 und darf frei geteilt und modifiziert werden.

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