2021-05-12 Blog Sara Paasche-Orlow

Den Tod betrauern, in der Ewigkeit leben

12.5.2021 | Blog | Rabbinerin Sara Paasche-Orlow

Osterblog

© EAzB / Ulf Beck

Die Tage des Omer werden in der jüdischen Tradition 49 Tage lang von der zweiten Nacht des Pessachfestes bis zum Vorabend von Schawuot gezählt, dem Fest der Offenbarung und des Empfangs der Thora. Diese Tage liegen immer im Frühjahr, und die Zählung geschieht jeden Abend mit einem Segensspruch. Zu biblischen Zeiten wurden in dieser Zeit die Getreidegarben der neuen Ernte nach Jerusalem gebracht. Im allabendlichen Gebet wird darum gebeten, dass die kommende Ernte gut ausfallen und die Gemeinschaft überleben möge.  

Der Frühlingsbeginn und das neue, zaghafte Leben bilden den Hintergrund für die Reise von der Befreiung aus Ägypten hin zum Empfang der Thora. In den Ritualen der jüdischen Feiertage werden geschichtliche Erfahrungen mit den Jahreszeiten und landwirtschaftlichen Zyklen von Saat und Ernte verbunden. Die Befreiungsgeschichte, der Auszug aus Ägypten und die Geburt des Volkes Israel werden am Pessachfest mit der Wiedergeburt des Frühlings und den biologischen Zyklen des neuen Lebens verwoben.

In den Tagen des Omer soll getrauert werden, und einige Trauerregeln sind in dieser Zeit in Kraft. Nach einer Responsa zu diesem Thema von Rabbi Professor David Golinkin stammen diese Regeln aus der frührömischen Periode. Sie wurden demnach von Rabbinern der talmudischen Zeit übernommen und begründet mit dem Pandemie-Tod von 12.000 Schülern des Rabbi Akivas (gest. 135 n.Chr.), eines der bedeutendsten Lehrer in der Geschichte des rabbinischen Judentums. Dafür gibt es allerdings keine historischen Beweise. Dennoch hielten Jüdinnen und Juden an dieser Trauerperiode durch die Geschichte hindurch fest. Auch wurden die Trauertraditionen zu verschiedenen tragischen Anlässen wie den Kreuzzügen und großen Pogromen bis hin zur Shoah immer wieder angewandt.  

Auch wenn heute einige dieser Bräuche weniger wichtig geworden sind, sollen in dieser Zeit keine Familienfeste oder Hochzeiten gefeiert werden. Es gibt nur eine Ausnahme, nämlich den 33. Omer-Tag, L'ag B'Omer, der eigens als Tag zum Feiern in dieser Phase bestimmt ist. Im Rest dieser sieben Wochen fühlen wir uns dazu aufgerufen, zu trauern und uns auf spirituelles Wachstum und Selbsterkenntnis zu konzentrieren, wie es in der Mystik der Kabbalisten beschrieben ist.

Dieses Jahr zu Pessach wurden wir von der drückenden Last der Pandemie befreit, nachdem Impfstoffe leichter zugänglich wurden und sich mehr Menschen Schutz vor der tödlichen Covid-Plage verschaffen konnten. Aber wir trauern um all jene, die gestorben sind, und um die vielen, die isoliert und einsam ums Überleben kämpfen. In diesen sieben Wochen danach haben wir Zeit, die Toten zu ehren und uns mit unserer Zerbrechlichkeit auseinanderzusetzen.  

Die Befreiung am Pessachfest bringt die Freiheit und damit das Bewusstsein der Sterblichkeit und des Todes. Wir antworten darauf mit dem Zählen des Omer. Damit halten wir durch, bis wir zu Schawuot am Sinai ankommen wie jedes Jahr. Die jüdische Antwort auf den Tod liegt in der Offenbarung, im Empfangen von Gottes Gesetz, im Bund und in den Traditionen. Wir nehmen unsere Berufung an, mit Gott zusammenzuarbeiten und das Leben, die Gemeinschaft und die Umwelt zu bewahren. Das ist unsere Antwort auf den Tod. Ein Mensch stirbt, aber was bleibt ist der Teil, der als Ebenbild Gottes geschaffen wurde, das Ebenbild der Ewigkeit. Das Körperliche stirbt, aber der Teil, der für das Ziel des Bundes mit Gott gearbeitet hat, wird im Leben der Gemeinschaft durch alle Generationen hindurch weiterwirken.

Sara Paasche-Orlow ist Rabbinerin in Boston und Direktorin für Seelsorge bei dem jüdischen Altenpflegeanbieter Hebrew Senior Life, der in Forschung und Lehre mit der Harvard Medical School zusammenarbeitet.

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