Durchs Netz gefallen

Durchs Netz gefallen

Armut im Sozialstaat | Blog | Ute Tenkhof

© Jonas Klinke / EAzB

Allen Instrumenten des Sozialstaats zum Trotz gibt es Familien, die in existenzielle Not geraten. Viele haben so wenig Einkommen, dass eine schwere Krankheit, ein Unfall oder eine Trennung reicht, um sie finanziell aus der Bahn zu werfen. Gerade diejenigen, die dringend Hilfe benötigen, schweigen oft aus Scham und zeigen ihre Not nicht. Dabei brauchen Familien in Not Ermutigung und Aufmerksamkeit.

Am 4. Dezember begeht die Stiftung Hilfe für Familien in Not – Stiftung des Landes Brandenburg ihr 30-jähriges Bestehen. Ein stolzes Datum. Dabei hätten sich viele, die mit der Stiftung zu tun haben, gewünscht, dass sie schneller überflüssig wird und dass Familien nicht mehr in Not geraten.

Ein frommer Wunsch. Als ich 2012 den Vorsitz des dreiköpfigen ehrenamtlichen Vorstands übernahm, konnte auch ich mir nicht vorstellen, dass die Stiftung noch lange und vor allem in diesen Zeiten besonders nötig sein würde. Gegründet worden war sie auf Initiative der früheren Sozialministerin Brandenburgs, Regine Hildebrandt: Nach der Wiedervereinigung war die Arbeitslosenzahl in Brandenburg 1990/1991 geradezu explodiert, und viele Familien gerieten in existenzielle, nie gekannte Not. Hildebrandt wünschte sich, dass die Stiftung in diesen Fällen schnell helfen solle. Das tat sie auch und tut es noch heute – und zwar subsidiär, also erst, nachdem alle gesetzlichen Ansprüche geprüft worden sind.

Seit 1992 unterstützte die Stiftung bisher 4.568 Familien mit insgesamt rund 3,45 Millionen Euro.

Seit zehn Jahren lerne ich nun täglich dazu: Ja, das soziale Netz ist in Deutschland eng geknüpft. Es hilft sehr vielen Menschen und beruhigt noch mehr Menschen, dass sie nicht ins Bodenlose fallen, wenn sie in finanzielle Nöte geraten. In diesen Tagen wird das wirklich beispielhafte soziale Netz ergänzt um staatliche Hilfen zur Abfederung der Energiekosten. Alle erhalten die staatliche Unterstützung, ob arm oder reich … Doch trotz dieser umfangreichen Hilfen gibt es Familien, deren Einzelschicksale auch von einem engen Netz nicht aufgefangen werden können.

Zwei Beispiele: Die Stiftung half einer alleinerziehenden Frau mit fünf Kindern. Eines der Kinder war schwerst erkrankt und benötigte nun einen Rollstuhl. Die Stiftung leistete einen Beitrag für ein behindertengerechtes Auto, damit der Junge am Leben teilhaben kann. Ebenso unterstützte die Stiftung eine junge Mutter mit zwei Kindern nach dem Unfalltod ihres Lebenspartners, indem sie unter anderem den Eigenanteil für eine Mutter-Kind-Kur übernahm.

Oft wird Hilfe benötigt, wenn sich Eltern trennen. Aus einem Haushalt zwei zu machen, so dass die Kinder bei jedem Elternteil Platz haben, ist für viele Familien mangels ausreichender Ressourcen nicht zu stemmen.

Von welchen Familien reden wir?

Von Familien, die mit ihrem geringen Haushaltseinkommen nichts ansparen können: In Brandenburg erhält etwa ein Vierteil der Beschäftigten nur den Mindestlohn (In Berlin sind es 18 Prozent, in den alten Bundesländern zwölf Prozent). Von Eltern, die oft zwei Jobs haben, um über die Runden zu kommen. Von Familien, die sich jeden Monat freuen, wenn die Zahl auf dem Konto nicht rot ist. Von Familien, die so wenig Einkommen beziehen, dass sie sich nicht zwischen Urlaub und Heizkosten entscheiden müssen, sondern zwischen Heizkosten und Essen. Von Familien, die in diesem Jahr wegen der sprunghaft gestiegenen Inflation noch vor Weihnachten ihre kleinen Ersparnisse für den Lebensunterhalt auflösen müssen.

Angesichts dieser existenziellen Sorgen liegen die Nerven blank. Schon durch die Belastungen der Corona-Zeit waren die Nerven vieler Familien arg strapaziert gewesen. Und die Kinder leiden.

Denn auch Familien, die bisher mit ihrem Geld noch so eben auskamen, bekommen jetzt große Probleme. Sie sind es nicht gewohnt, um Hilfe zu bitten. Oft nutzen sie leider auch nicht das gute Netz der Beratungsstellen von Wohlfahrtsverbänden und Kommunen, mit denen die Stiftung eng zusammenarbeitet. Sie kennen es vielfach gar nicht.

Dabei gibt es kaum einen Menschen, der nicht irgendwann einmal auf Hilfe angewiesen ist. Sich selbst dies einzugestehen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern erfordert Mut und Selbstbewusstsein und ist ein Zeichen von Stärke. Familien in Not brauchen unsere Ermutigung und Aufmerksamkeit. Meine Erfahrung ist, dass vor allem diejenigen, die dringend Hilfe benötigen, schamhaft schweigen und ihre Not nicht zeigen. Oft erkennen weder Nachbar:innen noch Freundeskreis die Not.

Diese wichtige Aufmerksamkeit leistet die Spenderfamilie der Stiftung. Trotz Pandemie, trotz Krieg in der Ukraine, trotz Inflation. Zugleich merkt die Stiftung sehr deutlich, dass das Geld nicht mehr so locker sitzt. Die Spendeneinnahmen sind um ein Drittel gesunken. Die Stiftung lebt von vielen, oft nicht sehr großen Einzelspenden, und wir sind sehr stolz, dass uns viele Spenderinnen und Spender seit Jahrzehnten die Treue halten. Für mich ist das ein Zeichen, dass die Stiftung ein Knotenpunkt im sozialen Miteinander und Zusammenhalt in Brandenburg und darüber hinaus geworden ist: Nicht nur Brandenburger:innen unterstützen mit ihrer Spende Familien in Not, sondern auch Berliner:innen und Menschen, die früher in Brandenburg lebten und mittlerweile weggezogen sind.

Es ist für mich ein ermutigendes Zeichen des Miteinanders, dass in diesen kalten und oft ruppigen Zeiten Menschen an andere Menschen denken und mit denen teilen, denen es schlecht geht. Ein solidarisches Zeichen in der Adventszeit 2022.

Ute Tenkhof ist Vorstandsvorsitzende der Stiftung Hilfe für Familien in Not – Stiftung des Landes Brandenburg. Für die Playlist zum Adventsblog hat sie die Protesthymne „Sólo le pido a Dios”, entstanden Ende der 1970er Jahre vor dem Hintergrund der Militärdiktatur in Argentinien, in einer Aufnahme von Mercedes Sosa ausgewählt.

Die ganze Playlist zum Adventsblog TROTZDEM!

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