Immer neu und doch beständig

Immer neu und doch beständig

Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Hannah Schilling

© alex2.0 / photocase.de

Weihnachten und Schöpfung - Geburt und Anfang - sind in der christlichen Tradition eng mit der Symbolik des Lichts verbunden. Auch auf den Fotos zu unserem Adventsblog steht das Licht im Mittelpunkt.

Der Job fürs Leben ist längst nicht mehr die Norm. In der Arbeitswelt gilt heute Flexibilität als Ideal. Doch das Mantra vom permanenten Neubeginn hat auch Schattenseiten. Wer immer beweglich bleiben und Veränderung aushalten soll, braucht Räume und Routinen, die Beständigkeit geben.

Kürzlich verteidigte eine Freundin ihre Dissertation. Im Anschluss fragte ihr Vater die Professorin im Prüfungskomitee, ob seine Tochter denn jetzt Aussicht auf „etwas Festes“ habe. Das „Feste“ als Ideal: Das Bild einer lebenslangen Anstellung in einem einzigen Betrieb mag für ältere Menschen noch die erstrebenswerte Norm sein. Für viele – insbesondere in der jüngeren Generation – ist es eine Schablone, die kaum zur Realität der Arbeitswelt passt.

Schon länger beobachten Sozialwissenschaftler*innen eine Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen in fast allen Berufen. Arbeitnehmer*innen hangeln sich von Vertrag zu Vertrag, wechseln Tätigkeitsfelder und Lebensmittelpunkte. Schmackhaft gemacht werden ihnen diese „Bastelbiographien“ (Ulrich Beck) als Möglichkeit, sich stets neu zu erfinden und in wechselnden Netzwerken neue Ideen und Projekte zu entwickeln. Weiterbildungen und Coaching-Angebote für persönliche und berufliche Veränderung findet man an jeder Ecke. Denn: Sich selbst immer wieder neu zu erfinden, ist kein Kinderspiel. Die Soziologen Hans J. Pongratz und G. Günter Voß haben in den 1990er Jahren dafür den Leittypus des „Arbeitskraftunternehmers“ identifiziert: Die eigene Arbeitskraft wird zunehmend zu einer Ware, die es zu optimieren gilt.

Besonders intensiv kann man den Trend zum permanenten Neubeginn in der Unternehmenskultur des Silicon Valley studieren. Kein Tag darf dem anderen gleichen. „It’s always day one“, so das Mantra von Amazon-Gründer Jeff Bezos: Jeder Tag ist wie der erste Tag, ein Neuanfang. Dies betrifft nicht nur die Produktentwicklung. Auch die Arbeitsroutinen der Beschäftigten und die Teams sollen möglichst flexibel und veränderbar gehalten werden. Denn sobald das Unternehmen und die Mitarbeiter*innen in eine Mentalität der Wiederholung verfielen, so Bezos‘ Sorge, würde Stillstand herrschen, eine Erstarrung, die letztendlich in Unproduktivität und Untergang münden könnte.

Auch in vielen anderen Zusammenhängen klingt das Neue, der Neuanfang verheißungsvoll, fast magisch – als könnten sich damit alle Missstände, alles Negative in Potenzial und Gutes transformieren. Aber was bedeutet ein programmatisches, ständiges Neustarten für die Menschen, die auf Arbeit als Einkommensquelle angewiesen sind, für ihre Lebensperspektiven, für die Zusammenarbeit?

Vor allem zwei Schattenseiten hat der Trend zum stetigen Neubeginn. Erstens kann der Zauber des Neuen auch blind machen: für die eigene Verletzlichkeit als Mensch und für die vielen finanziellen, sozialen und kulturellen Ressourcen, die es braucht, um sich immer wieder neu zu erfinden. Ständig wechselnde Projekte und Netzwerke sind spannend, solange alles funktioniert, man mit den richtigen Karten ins Spiel des Arbeitsmarktes tritt und ein Polster an Einkommen und Unterstützung im Gepäck hat. Dies ist jedoch nicht selbstverständlich. Flexibilität und Freiheit werden auch in gering entlohnten Minijobs und in den freiberuflichen Tätigkeiten der „Gig Economy“ großgeschrieben, in denen man sich von einem kleinen Auftrag zum nächsten hangelt. Statt Zauber erleben viele Beschäftigte in diesen Niedriglohnsektoren Unsicherheit. Sie bangen Monat um Monat aufs Neue darum, über die Runden zu kommen. Das permanent Neue macht dann verwundbar und nicht selten krank.

Zweitens braucht gute Arbeit fast immer auch Kontinuität. Beständigkeit ist zum Beispiel wichtig für Netzwerke: Netzwerke brauchen Pfeiler und Anker – seien es eine Kneipe, ein Büro oder ein Gemeindehaus – um wachsen und für Menschen wirksam werden zu können. Ganz konkret: einen Raum zum Treffen, zum Kennenlernen und Plaudern. In der Forschung zu sozialem Kapital, die sich genau mit der Frage beschäftigt, wie Netzwerke entstehen und als Ressource funktionieren, betont zum Beispiel der Soziologe Mario L. Small die Bedeutung von „Institutionen“ im Sinne von festen, beständigen Räumen und Routinen.

Dennoch steckt im permanenten Neubeginn auch eine Chance. Im besten Fall macht er alle Beteiligten beweglich und lenkt den Blick nach vorne. Statt in bequemen alten, um sich selbst kreisenden Routinen zu verharren, lädt das Spiel mit dem Unbeständigen ein, Bausteine zu suchen, die anschlussfähig ans Alte sind, aber auch auf neue Pfade führen.

Auf die Frage des Vaters meiner Freundin am Ende Ihrer Ausbildung und Promotion könnte man also antworten: Etwas Festes, ja, das brauchen wir. Aber anders als gedacht. Es gilt, mit den neuen Gelegenheiten, temporären Projekten und Netzwerken so zu jonglieren, dass wir uns Beständigkeit bauen können – thematisch und menschlich. Dieses Spiel funktioniert vor allem dann, wenn wir Wege bauen, die tragen. Wenn wir dabei Verbindungen vertiefen, die Konflikte aushalten und nicht nur auf gemeinsamen Interessen und Nutzenmaximierung beruhen. Das macht stark und frei zugleich, um Neues anzustoßen, kontinuierlich zu wirken und manchmal auch unbequem zu sein.

Hannah Schilling ist promovierte Soziologin und Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugendbildung.

Geburt und Anfang. Ein Adventsblog

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ So knapp beschreibt der Evangelist Lukas Jesu Geburt. Der Akt der Geburt, ein halber Vers. Dieser halbe Vers hat es allerdings in sich. Denn damit ist alles anders als zuvor. Nun ist der Heiland in der …

Dr. Hannah Schilling 2021

Dr. Hannah Schilling

Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugendbildung

Telefon (030) 203 55 - 311

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