Prediger, sozial engagierter Christ, Antisemit

Prediger, sozial engagierter Christ, Antisemit

Die Berliner Stadtmission erinnert an ihren Gründer

Adolf Stoecker

© Wikimedia Commons

Der Gründer der Berliner Stadtmission war einer der führenden Antisemiten des 19. Jahrhunderts. Jetzt beginnt die Stadtmission einen Prozess der Auseinandersetzung mit diesem historischen Erbe. Katharina von Kellenbach von unserem Projekt Bildstörungen beteiligt sich daran mit einem Workshop, der zur antisemitismuskritischen Auseinandersetzung mit den Schriften Adolf Stoeckers einlädt.

Adolf Stoecker war ein berüchtigter Antisemit, ein sozial engagierter Christ, ein mitreißender Prediger – und der Gründer der Berliner Stadtmission. Geboren 1835 in Halberstadt, wurde er 1863 ordiniert, und nachdem er sich als Divisionspfarrer im Preußisch-Französischen Krieg verdient gemacht hatte, wurde er von Kaiser Wilhelm 1874 zum vierten Hof- und Domprediger zu Berlin berufen. 1877 gründete er die Berliner Stadtmission und ein Jahr später – 1878 – die Christlich-Soziale Arbeiterpartei.

Stoecker bezeichnete sich selber als „Vater“ der antisemitischen Bewegung und war Erstmitunterzeichner der Antisemitenpetition im Jahre 1880, die forderte, die Gleichstellung der Juden im deutschen Kaiserreich rückgängig zu machen. Er weigerte sich, Gewalt gegen jüdische Mitbürger zu verurteilen und wollte sich vom sogenannten „Krawallantisemitismus“ nicht distanzieren. Seine Gewalttoleranz kostete ihn 1890 das Amt als Hofpredigers – was ihn nicht davon abhielt, weiterhin in der Öffentlichkeit antisemitisch zu agitieren, bis er 1909 starb. Im In- und Ausland war er als „zweiter Luther“ bekannt.

Stoecker konnte nicht wissen, dass sein antisemitisches Programm Jahrzehnte später in einem staatlich organisierten Massenmord an sechs Millionen unschuldigen Menschen enden würde. Aber seine Forderung, „das moderne Judentum zu beseitigen“, hat sicherlich auch zum Schweigen der Kirchen beigetragen, als am 8. November 1938 die Synagogen brannten: 

"Die große Frage ist, wie wir die Gefahr dieses modernen Judentums beseitigen oder verkleinern. Die Gesetzgebung, wenn sie die Herrschaft des Kapitals einschränkt und damit den Juden ihre Domäne einengt, kann Einiges tun. Das Beste muss aus dem Wiedererwachen des lebendigen Christentums kommen. Wenn das deutsche Volk wieder ein christliches Volk wird, gläubig an Jesum Christum, frei von Geldgier, voll Ehrfurcht für seine Kirche, dann wird das moderne Judentum mit seinem Mammonsgeist, seiner schnöden Presse, seinem Hass gegen die Kirche nichts ausrichten. Vielmehr wird das lebendige Christentum eine mächtige unwiderstehliche Mission treiben an dem altgläubigen wie an dem modernen Judentum." (Auszug aus „Notwehr gegen das moderne Judentum“, zitiert nach Günther Brakelmann, Adolf Stoecker als Antisemit. Teil 2. Texte des Parteipolitikers und Kirchenmannes, 2004, S. 40-41)

as Judentum steht für Stoecker (wie für andere Antisemiten) für all das, was sie hassenswert und verabscheuungswürdig finden. In dieser Passage macht Stoecker das Judentum für die Verarmung der Berliner Bevölkerung, für unliebsame Berichterstattung in der Presse und für den einen Machtverlust der Kirchen in der industrialisierenden und säkularisierenden Gesellschaft verantwortlich. Er war ein früher Vertreter eines politischen Antisemitismus, der Juden mit all dem identifiziert, wogegen die Antisemiten kämpfen wollen, egal wie widersprüchlich es im Einzelnen erscheint. So werden Juden verantwortlich gehalten für Kommunismus und Kapitalismus, Militarismus und Pazifismus, Feminismus und Patriarchat und später dann für  Kolonialismus und Nationalismus, Migration und Globalisierung. Die Dynamik des Judenhasses besteht in seiner Anpassungsfähigkeit, denn „die Juden“ sind immer eine Projektionsfläche für das, was bekämpft und „beseitigt“ werden soll.  

Antisemitismuskritischer Blick auf Stockers Schriften

Mit einer Veranstaltung am 24. August beginnt die Berliner Stadtmission einen längeren Prozess der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ihres Gründers und der Aufarbeitung dieses historischen Erbes. In diesem Rahmen gestaltet unsere Studienleiterin Katharina von Kellenbach – Leiterin unseres Projekts Bildstörungen – einen interaktiven Workshop. Darin werden die Teilnehmenden aufgefordert sein, Stoeckers Schriften antisemitismuskritisch zu diskutieren. Ausgewählt wurden dazu Texte, die den theologischen Unterbau des politischen Antisemitismus Stoeckers deutlich machen.

Ein Aspekt ist dabei Stoeckers christlich-soziale Vision: Stoecker setzt christlich mit sozial und jüdisch mit geldgierig gleich. Woher kommt diese Assoziation, und in welchen biblischen und geschichtlichen Narrativen wurzelt dieses Vorurteil? Wie geläufig sind wir auch heute noch mit einer völkischen Theologie, die Religionszugehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Volksgemeinschaft nahtlos vereinigt? Gehören Juden zum deutschen Volk und zur deutschen Geschichte oder gibt es auch heute noch Positionen, die Andersgläubige (und Andershäutige) aus dem „christlichen Abendland“ ausschließen?

Eine andere Gruppe wird sich auf die Spuren der Erfüllungs- und Enterbungstheologie begeben, die aus diesem Satz Stoeckers spricht: „Wie viel höher steht diese Anschauung als das Alte Testament! Das Alte Testament ist zwar auch göttlichen Ursprungs, aber es enthält nur die Verheißung, das Neue Testament die Erfüllung.“ Wie oft wird der Begriff  „altestamentarisch“ benutzt, wenn eine Position als veraltet oder blindgläubig denunziert werden soll?  Solange das Judentum auf das Alte Testament reduziert wird (wie z.B. in der Bezeichnung „jüdisch-christliche Tradition“), wird dem rabbinischen Judentum die theologische Existenzberechtigung abgesprochen, und es wird zu einer toten Tradition erklärt.  

Ein weiteres Thema des Workshops ist Stoeckers Argument, das jüdische Exil sei als Strafe Gottes zu verstehen: „Es ist ein göttliches Verhängnis über diesem Volke, dass es unstet umherirren soll in der Welt und leiden bis ans Ende der Tage, weil es das Heil nicht erkannt und nicht angenommen hat.“ Hinter dieser Aussage steht nicht nur der Gottesmordvorwurf, der Juden die Schuld an der Kreuzigung zuschiebt, sondern auch der Aufruf („soll“) weiter zu strafen und mehr Leid zuzufügen. Dieser Zerstreuungstheologie tritt kurze Zeit später Theodor Herzl mit seinem Buch Der Judenstaat entgegen. Finden sich heute noch Spuren dieser Straftheologie in der grundsätzlichen und heftigen Kritik am Zionismus und dem Staat Israel?

Ebenfalls zur Sprache kommen sollen die Vorstellung von der „Verknöcherung des Gesetzes“ und die christliche Kritik an jüdischen Ritual- und Religionsgesetzen wie zum Beispiel den Speisegesetzen und der Beschneidung. Stoecker schreibt: „Israel hat noch heute religiöse Satzungen, die es von den anderen Völkern absondern; die orthodoxen Israeliten glauben sich zu verunreinigen, wenn sie mit Christen zusammen essen, sie haben ihre besonderen Schlächter und ihre Speisegesetze. Nun, aber dann sind sie doch gewiss eine fremde Rasse, wenn sie die christlichen Deutschen und ihre Mahlzeiten für unrein achten.“ Hier bricht durch die Religionskritik der Rassegedanke und nicht nur eine tiefe narzisstische Kränkung, sondern auch die lutherische Absage an das Gesetz als Glaubenspraxis. Warum tun sich Christen schwer, die jüdischen Religions- und Ritualgesetze positiv oder zumindest neutral zu sehen?

Die Diskussion soll dazu anregen, antijüdische Argumentationsstrukturen zu erkennen und sie an den theologischen Wurzeln zu packen. Die Auseinandersetzung mit den offen antisemitischen Schriften Adolf Stoeckers hilft, eher versteckte Formen judenfeindlicher Auslegungen und Positionen zu erkennen. Damit soll ein kreativer und produktiver Umgang mit dem Erbe Stoeckers gefunden werden.

Prof. em. Katharina von Kellenbach, PhD

Projektreferentin für „Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen pädagogischen und theologischen Praxis“

Kooperationspartner der Veranstaltung:

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