Der Krieg soll nicht siegen

Der Krieg soll nicht siegen

Friedensarbeit braucht langen Atem | Blog | Mevlida Macanovic

© Jonas Klinke / EAzB

Der Krieg in ihrer Heimat Bosnien-Herzegowina trieb Mevlida Macanovic 1993 in die Flucht. Gegen Kriegspolitik, Nationalismus und Geschichtsvergessenheit kämpft sie bis heute – mit zivilgesellschaftlichem Engagement und Friedensarbeit.

Stell dir vor, es ist Frieden und dir wird gesagt: „Du kannst ruhig schlafen. Über dich wachen unsere Soldaten.“ Eines Tages wurden aus unseren Soldaten Zerstörer. Der Krieg war da.

Wie konnte das passieren? An der Schule wurde zwar Kriegsgeschichte gelehrt. Wie schlimm Krieg sein kann, hatte ich verstanden, aber der Krieg wurde uns als Film gezeigt. Dass so etwas in Wirklichkeit in unserem Land Jugoslawien geschehen könnte, konnte ich nicht glauben. Wir wuchsen zusammen auf, unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit. Unsere Freundschaften wuchsen mit uns, und „gute Nachbarschaft“ war seit Jahrhunderten Symbol des Zusammenlebens auf dem Gebiet des heutigen Bosnien und Herzegowina.

Der Krieg nahm seinen Anlauf mit aller Wucht und Zerstörung. Anfangs zeigte sich der Nationalismus nur bei einer kleinen Gruppe. Als der Krieg andauerte, verbreitete sich der Nationalismus immer mehr. Die Freiräume in der Gesellschaft wurden enger. Die Diskriminierung von Minderheiten nahm zu. Wie konnte das passieren? Die Menschenrechte waren eines der obersten Anliegen der jugoslawischen Gesellschaft gewesen – und nun war alles verschwunden. Propaganda trieb die Menschen hin und her. Wem sollte man glauben? Meine Freunde, Arbeitskollegen und Nachbarn ließen sich von der Propaganda nicht beeinflussen. Sie halfen mir, besorgten Lebensmittel. Sie wollten mir auch Waffen zur Verteidigung schenken. Das lehnte ich ab. Als die Lage gefährlicher wurde, warnten sie mich und sagten: „Rette dich und dein Kind.“

Meinen Wohnort habe ich am 15. März 1993 verlassen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk begleitete unseren Konvoi über die Front bis nach Kroatien. Wir wurden in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Zagreb untergebracht. Dort begann mein Widerstand gegen die Kriegspolitiker. Sie kamen und wollten die Männer mobilisieren und an die Front bringen. Ich motivierte die Frauen im Flüchtlingslager, und wir blockierten zusammen den Zugang zur Sporthalle, in der alle untergebracht waren. Die Kriegspolitiker gingen ohne mobilisierte Männer. Auch unter den Flüchtlingen wurden einige feindselige und unwahre Geschichten erzählt. Einige Menschen zeigten ihre Nachbarn bei der kroatischen Polizei an, und diese wurden verhört.

Die Kampagne Den Winter überleben, initiiert von Friedens- und Menschenrechtsgruppen“, kümmerte sich um Aufnahme und Einreisevisa nach Deutschland oder Schweden. Von Schweden wusste ich, dass es ein freies, demokratisches Land und im Zweiten Weltkrieg neutral gewesen war. Zu Deutschland hatten wir an der Schule viel über den Nationalsozialismus gelernt. Ich dachte, alle Deutschen hätten Adolf Hitler unterstützt. Meine erste Begegnung mit der deutschen Gesellschaft änderte mein Bild. Ich kam als muslimische Frau zur evangelischen Kirchengemeinde Essen-Kray und begegnete einer sehr lebendigen Gemeinde.

In Deutschland leistete ich weiter Widerstand: Ich protestierte, als die Vertriebenen Veranstaltungen organisierten, um Geld für Waffen zu sammeln. Ich war der Meinung, dass alle Dortgebliebenen schon genug Waffen hatten, um sich und ihre Gegner zu zerstören. Aber ich half meinen Freunden und Nachbarn, die im Krieg geblieben waren. Die Kontakte bestehen bis heute.

Seit 2005 engagiere ich mich noch stärker in der Friedensarbeit. Meine Motivation: Der Krieg soll nicht siegen. Meine Freunde blieben Freunde, und ich versuchte, Menschen dabei zu helfen zu begreifen, was geschehen war. Die meisten Menschen, denen ich begegnete, waren immer offen und freundlich zu mir. Die Kriegspolitiker nicht. Einmal lehnten sie einen Hilfstransport mit Medikamenten ab mit den Worten: „Wieso kommst du hierher? Du bist hier unerwünscht.“ Meine Antwort war: „Die Menschen hier brauchen das.“ Ich wollte diesen Politikern nicht unsere Stadt überlassen. Es war gut, dass der Bürgerverein Putevi mira (übersetzt: Friedenswege) da war. Ich entschied, die Hilfstransporte über diesen Verein zu organisieren. Die Kirchengemeinde Essen-Kray vertraute mir, und ich vertraue dem Verein.

Mein Konzept ist, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren und so die Kriegspolitik zu ändern. Der Weg ist nicht leicht, aber meine Überzeugung und meine Hoffnung haben nicht nachgelassen, auch nicht in der dunkelsten Zeit.

Ich will die friedliche Gesellschaft so wiederherstellen, wie sie vor dem Krieg war. Die jugoslawische Gesellschaft befand sich Ende der 1980er Jahre in einem Transformationsprozess und war sehr verletzlich. Das haben einige Interessengruppen ausgenutzt, um den Krieg zu befördern und anzuheizen. Die Gesellschaft hatte einigen Wohlstand erreicht und war zusammengewachsen. Warum die jugoslawische Gesellschaft den Krieg zuließ? Ich weiß es nicht. Deshalb suche ich weiter nach den Ursachen. Eine Rolle spielte meines Erachtens, dass die Vergangenheit nie richtig aufgearbeitet worden war. Die Rollen der Täter und der Opfer im Zweiten Weltkrieg wurden umgedreht: Aus den Opfern des Zweiten Weltkriegs wurden die Täter im Jugoslawien-Krieg. Die Täter-Opfer-Täter-Spirale wurde nicht unterbrochen.

Die Opferrolle akzeptiere ich nicht und suche weiter nach Wegen, um diese Gewaltspirale aufzulösen. Frieden ist möglich.

Mevlida Macanovic wurde 1961 in der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien und Herzegowina geboren. Seit 1993 engagiert sie sich in der Friedensarbeit. Seit 2020 gehört sie zum ehrenamtlichen Leitungsteam der Europäischen Bibeldialoge. Dank ihrer guten Kontakte zum Bürgerverein Putevi Mira konnte die Evangelische Akademie zu Berlin 2022 einen interreligiösen Bibeldialog im bosnischen Dubica veranstalten.

Für die Playlist zum Adventsblog hat Mevlida Macanovic „Pandora“ von Božo Vrećo ausgewählt, weil der bosnische Künstler im Video zum Lied mit dem deutsch-serbischen Musiker Marko Stojanović Louis tanzt.

Die ganze Playlist zum Adventsblog TROTZDEM!

TROTZDEM! Ein Adventsblog

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