Interview mit Reiner Anselm und Friederike Krippner zur neuen EKD-Friedensdenkschrift

„Zur Gewissenschärfung beitragen“

Interview mit Reiner Anselm und Friederike Krippner

Porträtfotos von Friederike Krippner und Reiner Anselm

© Karin Baumann/EAzB; LMU München

Der Münchner Theologie-Professor Reiner Anselm und Akademiedirektorin Friederike Krippner waren in der Leitung der EKD-Friedenswerkstatt und des Redaktionsteams maßgeblich an der Entstehung der neuen Friedensdenkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland beteiligt. Anlässlich der Veröffentlichung der Denkschrift haben wir mit ihnen über deren Kerngedanken gesprochen.

Was war eigentlich Anlass für eine neue Friedensdenkschrift nach der letzten Denkschrift aus dem Jahr 2007?

Reiner Anselm: Russlands völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat natürlich eine wichtige Rolle gespielt. Aber es gab eine ganze Reihe von Gründen, warum es zu dieser Denkschrift kam. Dazu gehören etwa die Diskussion um die Interpretation der Denkschrift von 2007, die Debatten nach Margot Käßmanns „Nichts ist gut in Afghanistan“ und dem entsprechenden EKD-Papier zum Afghanistaneinsatz und die kontroversen Überlegungen vor, auf und nach der EKD-Synode in Dresden 2019 haben.

Friederike Krippner: Die Fragen, um die es in der neuen Denkschrift geht, spielen ja in der Tagespolitik eine große Rolle. Es gibt einen akuten und sehr konkreten Bedarf für ethische Orientierung. Reiner Anselm hat schon den Angriffskrieg gegen die Ukraine genannt. Aber auch der eskalierenden Nahostkonflikt nach dem grausamen Terrorangriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023, die weltweiten Zunahme bewaffneter Konflikte, die Situation in Subsahara-Afrika, die Veränderung der regelbasierten Ordnung, die sichtbare große Rolle neuer – nicht zuletzt digitaler – Technologien in bewaffneten Konflikten weltweit, die autoritäre Umstrukturierung der USA: All das bildet die Folie, vor deren Hintergrund in Deutschland überall etwa über Waffenlieferungen, Investitionen ins Militär oder Wehrpflicht diskutiert wird. Das ist der weite politische Horizont, vor dem diese Denkschrift entstanden ist.

Was sind die wichtigsten inhaltlichen Unterschiede zwischen der neuen Friedensdenkschrift und ihrer Vorgängerin?

Krippner: Die neue Denkschrift formuliert die Grundüberzeugungen der Denkschrift von 2007 aus – und zwar vor dem Hintergrund der politischen Lage im Jahr 2025 und den Einsichten, die wir in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten gewinnen konnten. Eine davon ist, dass das große Vertrauen, das man 2007 noch in die korrigierende Wirkung des Völkerrechts hatte, in globale Kooperationen in Organisationen wie UN, Nato, WHO und in Wirtschaftsverflechtungen, dass dieses Vertrauen bis zu einem gewissen Grad enttäuscht wurde. Wir haben heute mehr Kriege als 2007, und wir haben auch wieder Krieg in Europa. Das heißt aber keineswegs, dass wir empfehlen, von globalen Kooperationen und dem Völkerrecht abzuweichen. Im Gegenteil, es gilt Wege zu finden, daran festzuhalten. Aber die neue Denkschrift formuliert viel stärker aus, was es heißt, wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird.  Welche Handlungsoptionen bleiben aus ethischer Sicht, wenn sich Aggressoren nicht an Spielregeln halten?

Anselm: Die Denkschrift argumentiert auch deutlich stärker theologisch-ethisch. Ihr Ausgangspunkt ist die Forderung Jesu zur Gewaltlosigkeit. Intensiver aber als 2007 setzt sich die Denkschrift mit der Frage auseinander, wie diese Forderung ins Verhältnis zu setzen ist mit der biblischen Einsicht in die Sündhaftigkeit des Menschen und mit der Erfahrung, dass unsere Welt auch von Gewalt, Krieg und Unrecht bedroht ist. Sie endet dabei mit dem Vertrauen, dass Gottes verheißener Friede uns in den schwierigen Abwägungen der Friedensethik orientieren kann.

Diese Zielrichtung, zur ethischen Urteilsbildung von Christinnen und Christen, zur Gewissenschärfung beizutragen, stellt ebenfalls einen neuen Fokus dar – wie überhaupt die neue Denkschrift sich stärker an konkreten Fragen orientiert: Was hat Friedensarbeit mit Klimaschutz zu tun? Wie kann hybrider Kriegsführung begegnet werden? Welche ethischen Abwägungen sollten bei Fragen des Wehrdienstes und der Kriegsdienstverweigerung leitend sein? Gibt es in bestimmten Fällen eine Pflicht zur Waffenlieferung?

Was kann eine Denkschrift überhaupt leisten in Zeiten, in denen unverrückbar geglaubte politische Gewissheiten innerhalb kurzer Zeit völlig infrage stehen?

Anselm: Sie kann ein Koordinatensystem zur Orientierung und zur verantwortlichen Entscheidungsfindung bieten. Und gleichzeitig ermutigt sie dazu, die eigene Position immer wieder ins Verhältnis zu setzen zu den Urteilen anderer. In all dem war uns wichtig, dass die Denkschrift der differenzierten Urteilsbildung und Begleitung der Einzelnen dient. Es geht um politisch komplexe Fragen. Die bedürfen einer gründlichen ethischen Abwägung, keiner verkürzend-moralisierenden Entrüstung.

Ein Kernbegriff der alten wie der neuen Denkschrift lautet „Gerechter Friede“. Was ist darunter konkret zu verstehen?

Krippner: Die Formel bringt zum Ausdruck, dass Frieden und Gerechtigkeit zusammengehören. Friedensethik darf sich nicht nur mit der Frage beschäftigen, wann und unter welchen Umständen die Anwendung von Gewalt legitim sein könnte und wann nicht. Ihr Gegenstand ist ja der Friede, nicht der Krieg. Und hier gilt es, die ganz elementare Einsicht auszubuchstabieren, dass die Abwesenheit von Gewalt noch keinen Frieden garantiert, sondern dass noch andere Aspekte hinzukommen müssen.

Konkret entfaltet die Denkschrift das Leitbild des Gerechten Friedens in vier Dimensionen: in Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Abbau von Ungleichheiten und dem friedensfördernden Umgang mit Pluralität. Neu gegenüber 2007 ist nun, dass dem Schutz vor Gewalt ein relatives Prä eingeräumt wird – dass also gesagt wird, dass angesichts der direkten Bedrohung von Leib und Leben eine Durchsetzung der anderen Dimensionen kaum denkbar ist.

Anselm: Daraus resultiert zum einen, dass der Schutzverantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern besondere Aufmerksamkeit zukommt. Wenn der Schutz vor Gewalt im Mittelpunkt steht, dann heißt das aber zum anderen auch: Kein anderes politisches Ziel kann solche Bedeutung haben, dass es mit Gewalt durchgesetzt werden dürfte, auch nicht die Ziele der Gerechtigkeit, der Freiheit oder auch der gesellschaftlichen Pluralität.  

Ganz oben auf der politischen Agenda steht gerade die Frage, wie die Bundeswehr an genügend Soldatinnen und Soldaten kommt; auch von der Wehrpflicht ist dabei viel die Rede. Was sagt die Denkschrift dazu?

Anselm: Die Denkschrift argumentiert, dass der Schutz vor Gewalt nicht nur die grundlegende Dimension des Gerechten Friedens bildet, sondern auch eine Kernaufgabe des Gemeinwesens. Der Staat muss grundsätzlich sicherstellen, dass er sich verteidigen und diejenigen, die auf seinem Territorium leben, schützen kann. Dafür braucht er auch die notwendigen Ressourcen. Das bedeutet auch: es braucht genügend Personal zur Verteidigung. In kaum einen anderen Bereich greift der Staat aber so sehr in die persönliche Freiheit und auch in persönliche Überzeugungen seiner Bürger ein wie bei einer Wehrpflicht. Denn er verlangt im Rahmen der Wehrpflicht vom Einzelnen, unter Umständen sowohl zu töten als auch das eigene Leben zu riskieren. Dieser Eingriff erfordert daher eine sehr sorgfältige Abwägung der verschiedenen Möglichkeiten seitens des Staates und ganz besonders den Respekt vor der Gewissensentscheidung der Einzelnen, den Dienst mit der Waffe zu verweigern – als Achtung der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen.

Grundsätzlich spricht sich die EKD für den Vorrang freiwilliger Dienste aus. Eine Wehrpflicht ist nur dann ethisch vertretbar, wenn die Verteidigung des Gemeinwesens auf freiwilliger Basis nicht mehr gewährleistet werden kann und wenn sie zudem rechtsstaatlich, gerecht und geschlechtergerecht ausgestaltet ist.

Zugleich verweist die Denkschrift darauf, dass Sicherheit und Frieden nicht allein militärisch gesichert werden können. Daher regt sie eine gesellschaftliche Debatte über eine allgemeine Dienstpflicht an, die auch zivile und soziale Aufgaben einbezieht. Denn um Frieden zu sichern, bedarf es eben nicht nur des Militärs. Eine solche allgemeine Dienstpflicht könnte helfen, Verantwortung und Gemeinsinn zu stärken. Sie müsste aber an Freiheit, Recht und Gewissen gebunden bleiben. Insgesamt versteht die Denkschrift Wehrpflicht und Dienstpflicht als mögliche, im Sinne einer Verpflichtung der Einzelnen durch den Staat jedoch nur ausnahmsweise gerechtfertigte Formen gemeinschaftlicher Friedensverantwortung.

Welche Themen waren im Entstehungsprozess der Denkschrift besonders strittig?

Anselm: Am längsten und intensivsten haben wir über die Architektur und die theologische Grundlegung diskutiert. Das war nicht wirklich strittig, allerdings haben wir lange danach gesucht, wie eine angemessene Interpretation evangelischer Anthropologie angesichts der gegenwärtigen Erfahrungen und Herausforderungen aussehen könnte. Sie sollte sich den Realitäten der Sünde stellen und zugleich die Verheißungen des Evangeliums nicht aus dem Blick verlieren. Als wir dies für uns geklärt hatten und uns über die Zuordnung von Sünde und Schuld, Evangelium und Gesetz, staatlicher Ordnung und individueller Freiheit verständigt hatten, hatten wir ein Koordinatensystem, das uns geholfen hat, die einzelnen Fragen in großer Einigkeit zu beantworten. Zusätzlich hat es uns geholfen, dass wir sehr gute Fachexpertise in der Redaktionsgruppe hatten.

Krippner: Konkret war die Frage, ob eine mögliche Wehrpflicht auch für Frauen gelten sollte, am meisten umstritten. Die Denkschrift gibt darauf denn auch keine endgültige Antwort – aber sie wirft in die Debatte ein, dass Fragen unerreichter Gleichstellung dabei Beachtung finden sollten. 

Wie soll es jetzt, nachdem die neue Denkschrift veröffentlicht ist, weitergehen mit der Debatte um die evangelische Friedensethik?

Anselm: Wir wünschen uns, dass die Denkschrift eine breite Resonanz erfährt. Und natürlich wäre es sehr gut, wenn sich die evangelischen Kirchen selbst intensiv an der Garantie gesellschaftlicher Sicherheit und Friedensfähigkeit beteiligen. Das kann durch verstärkte Anstrengungen in der Bildungsarbeit – sowohl im Religionsunterricht als auch in der außerschulischen Bildung – geschehen, aber auch durch das vorbildliche Zusammendenken von zivilgesellschaftlichen und militärischen Anteilen.

Den gerechten Frieden gibt es nur als eine gemeinsame Anstrengung für den Schutz vor Gewalt, für die Förderung von Freiheit, den Abbau von Ungerechtigkeiten sowie für eine friedensfördernden Gestaltung von Pluralität. Glaubwürdig wird der Einsatz für den Frieden dann, wenn er nicht nur im Appell stehenbleibt, sondern wenn ihn jede einzelne Christin und jeder einzelne Christ und eben auch die Kirchen selbst als Handlungsaufforderung begreifen und sich in die Pflicht nehmen lassen. Eine friedensethische Debatte, die nur in gegenseitigen Belehrungen und Appellen an eine mehr oder weniger anonyme Öffentlichkeit besteht, braucht niemand.

Krippner: Auch uns in den Evangelischen Akademien kommt natürlich eine ziemlich große Aufgabe zu, wenn wir die Denkschrift ernst nehmen: Wir müssen Orte sein, an denen mit unterschiedlichen Menschen grundlegende und vor allem sehr informierte Diskussionen geführt werden. Wir müssen Leute zusammenbringen und vor allem auch zuhören. Die Denkschrift bietet Ansatzpunkte zur ethischen Orientierung, aber immer wieder fordert sie zu einer breiten Debattenkultur und zu einer transparenten und ehrlichen Diskussion auf. Friedensfähigkeit beweist sich auch darin, dass wir es als Gesellschaft miteinander aushalten, Lösungen für unangenehme, weil existenzielle Probleme zu suchen.

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