Weibliche Perspektiven auf prophetische Bibeltexte
Interview mit Theologin Jāna Jēruma-Grīnberga

© Ralfs Kokins
Für viele Frauen ist der „Weltuntergang“ eine tägliche Erfahrung – zum Beispiel, weil sie im eigenen Zuhause in Angst leben oder systemischer, teils tödlicher Gewalt ausgesetzt sind. In der biblischen Tradition handeln apokalyptische Texte nicht nur von Zerstörung, sondern auch von der Offenbarung der Wahrheit, von Widerstand gegen die Herrschenden und von der Hoffnung auf Veränderung. Wie beeinflussen spezifisch weibliche Erfahrungen die Sicht auf solche Texte? Und was bedeutet es für Frauen, dass sie in vielen Teilen der Welt bis heute um den Zugang zu Bildung kämpfen müssen?
Fragen an die britisch-lettische Theologin Jāna Jēruma-Grīnberga, die im September und Oktober bei zwei Veranstaltungen unserer Europäischen Bibeldialoge über diese Themen spricht.
Deuten Frauen prophetische Texte anders als Männer?
Jāna Jēruma-Grīnberga: Ja! Aber nicht alle Frauen interpretieren sie gleich. Eine feministische Theologin etwa wird sie anders verstehen als eine konservative Protestantin mit einem traditionellen Rollenverständnis. In den USA vertreten zum Beispiel Feministinnen verschiedener Traditionen, die sich auf die Erfahrungen bestimmter ethnischer Gruppen beziehen, ganz unterschiedliche Auslegungen.
Welche Rolle spielen die biblischen Offenbarungen für das Leben heutiger Frauen?
Jēruma-Grīnberga: Wir neigen dazu, vor allem die für uns besonders relevanten Teile der Bibel in unser Leben einzubeziehen. Wo in der Bibel finden Frauen in aussichtslosen Situationen Hoffnung? Vielleicht gerade in der Offenbarung mit ihrem Versprechen, dass Kriege oder Qualen endlich sind. Vielleicht auch in der Bergpredigt als Manifest der Gerechtigkeit, der Gnade und der Liebe, das Hoffnung stiftet.
Ist das Paradies verloren oder gibt es Hoffnung, es wiederzuerlangen?
Jēruma-Grīnberga: Das hängt davon ab, wie wir das Paradies definieren. Wenn wir darunter den mythischen Ort des Sündenfalls verstehen, gibt es natürlich kein Zurück dorthin. Aber wir könnten einen neuen Garten Eden schaffen – einen, der die ganze Erde umfasst und alles, was sie bewohnt. Wir müssten nur den Mut haben, zusammenzuarbeiten und uns von Gottes Gnade leiten zu lassen.
Was motiviert Sie, auf diesen neuen Garten Eden hinzuarbeiten?
Jēruma-Grīnberga: Eine der Haupttriebfedern eines gelebten christlichen Glaubens ist Gerechtigkeit. Alle Aspekte einer vom Glauben geleiteten Gerechtigkeit sind untrennbar miteinander verwoben. Geschlechtergerechtigkeit, Rassengerechtigkeit, wirtschaftliche und ökologische Gerechtigkeit sind verschiedene Facetten des einen Strebens, die Realität der Gnade und Barmherzigkeit Gottes mit Leben zu erfüllen.
Sind die christlichen Kirchen dabei eine Chance oder eher ein Hindernis?
Jēruma-Grīnberga: Aus den Kirchen erwächst die vielleicht größte Chance auf echten Wandel, eine echte Vision und darauf, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen. Denn Kirchen sind nicht an Wahlperioden gebunden, sondern können viel langfristiger denken und handeln. Zugleich können sie gerade dort, wo sie eine traditionalistische, fundamentalistische oder frauenfeindliche Theologie vertreten, ein schreckliches Hindernis für alle Fragen der Gerechtigkeit sein.
Jāna Jēruma-Grīnberga ist emeritierte Bischöfin der Lutherischen Kirche in Großbritannien und Co-Präsidentin der Anglikanisch-Lutherischen Gesellschaft. Sie wurde 2009 als erste Frau in Großbritannien zur Bischöfin geweiht und engagiert sich bis heute für die Ordination von Frauen.
Erschienen am 03.09.2025
Aktualisiert am 03.09.2025