Geboren wird immer, darüber geschrieben selten

Geboren wird immer, darüber geschrieben selten

Adventsblog „Geburt und Anfang“ │ Friederike Krippner

© David-W- / photocase.de

Weihnachten und Schöpfung - Geburt und Anfang - sind in der christlichen Tradition eng mit der Symbolik des Lichts verbunden. Auch auf den Fotos zu unserem Adventsblog steht das Licht im Mittelpunkt.

Die Geburt ist neben dem Tod die einzige existenzielle Erfahrung, die uns alle eint. Doch literarisch geschrieben wird darüber selten, erst recht nicht positiv. Dabei ändert die Geburt eines Kindes für die Beteiligten oft alles. Grund genug, in diesem Advent Geburt und andere Anfänge näher zu betrachten, schreibt Akademiedirektorin Friederike Krippner.

„Die Schwangerschaft führt eine Frau durch mehr Stimmungswandlungen als der Mond Phasen hat, und ich schrieb in jeder dieser Phasen etwas anderes – obwohl, nie über Frauentum und Kinderkriegen. Nein, ich schrieb über phantastische Königreiche, griechische Hirten, römische Krieger und persische Paschas. Wen hätte es schon interessieren sollen, wie einer Schwangeren zumute ist? Keinen Menschen! Hat Mr. Alexander Pope etwa je eine Geburt geschildert? Oder der Dekan Jonathan Swift? Mr. Addison, Mr. Steele? Boileau oder La Rochefoucauld? Vergil oder Horaz? Sie dachten nicht daran! Gut, sagte ich mir, wenn meine großen Vorbilder das für kein Thema halten, ist es auch kein Thema für mich […].“

Dieses Zitat aus dem Roman Fanny. Die wahre Geschichte der Abenteuer der Fanny Hackabout-Jones aus dem Jahr 1980 beschreibt ganz gut, wie es in der Literaturgeschichte um Schwangerschaft und Geburt steht, nämlich: mau! Das Buch der Bestsellerautorin Erica Jong ist eine Adaption des skandalumwobenen Briefromans Fanny Hill von 1748. Wie dieser erzählt es eine weibliche Emanzipationsgeschichte, in der Männer eine entscheidende Rolle spielen. Erica Jongs Fanny ist wie ihr literarisches Vorbild Kurtisane. Sie will aber eigentlich Schriftstellerin sein. In beiden Professionen geben Männer den Handlungsspielraum der Protagonistin vor. Fanny denkt in der zitierten Passage darüber nach, über was man schreibt – und über was nicht. Weil die Schriftsteller, die sie liest, Schwangerschaft und Geburt keinen literarischen Ort geben, findet auch Fanny keinen solchen Ort für ihr Erleben.

Die Potsdamer Literaturwissenschaftlerin Stefanie Stockhorst hat die literaturgeschichtliche Lage lakonisch zusammengefasst: „Schwangerschaft und Geburt begegnen in literarischen Texten verglichen mit der Häufigkeit dieser Phänomene im realen Leben erstaunlich selten.“ (Chloe 47, S. 41) Das gelte insbesondere für positive Geburtsbeschreibungen. Auch wenn Darstellungen von Schwangerschaft und Geburt in „schöner Literatur“ ab dem 19. Jahrhundert deutlich ausdifferenzierter würden, so werde die Geburt selbst eigentlich nie positiv geschildert und sei insgesamt thematisch unterrepräsentiert.

Geboren wird also immer, darüber geschrieben eher selten, so ist das zu verstehen. Man kann das erklären: mit einem überwiegend männlich geprägten Literatur-Kanon zum Beispiel und also mit dem fehlenden direkten Erleben der Schreibenden. Oder mit der vor allem symbolischen Bedeutungsaufladung der Geburt schon in antiken, auch in biblischen Texten, mit der das physische und psychische Erleben Schwangerer und Gebärender in den Hintergrund tritt.

Und doch erfasst einen leichtes Erstaunen, wenn man vor dem eigenen Bücherregal steht und diese weitgehende Leerstelle begreift. Denn Geburt, das ist gemeinsam mit dem Tod die einzige existenzielle Erfahrung, die uns alle eint. Mit dem Tod hat sie allerdings auch gemein, dass keine Betroffene, kein Betroffener darüber aus erster Hand berichten kann. Die eigene Geburt erinnert man ebenso wenig wie den Tod, jedenfalls in dieser Welt.

Wer einmal selbst geboren hat, weiß indes, dass auch Gebären eine zutiefst existenzielle, eine sehr physische Erfahrung obendrein ist. Mit der Geburt eines Kindes – auch dies ist eine Erfahrung, die sehr viele Menschen teilen – steht alles auf Anfang. Junge Eltern sind oft überrascht von der Drastik, mit der dieses Neue ins Leben tritt. Ein Kind ist auf der Welt und das Leben nicht mehr wie zuvor.

In besonderer Weise gilt dies für eine Geburt, die uns im neuen Testament erzählt wird: „Da machte sich auch auf Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln (…)“. (Lukas 2,5-7) Die Herkunft Josephs zu erläutern, nimmt mindestens ebenso viel Raum ein wie Marias Schwangerschaft und Jesu Geburt. Keine drei Verse braucht der Evangelist Lukas dafür. Aber mit diesen knapp drei Versen ist alles anders, eine neue Zeitrechnung beginnt, in der Folge wird sich eine neue Weltreligion herausbilden.

Heute, mit dem 1. Advent, beginnt nicht nur das Kirchenjahr, sondern auch die Zeit, mit der sich Christinnen und Christen auf das Feiern dieser so knapp erzählten Geburt vorbereiten, auf das Feiern des Neuen, das mit ihr in die Welt kam.

Wir meinen: Es ist zugleich auch eine Zeit, die einlädt, auf das zu schauen, was sich hinter diesen drei Versen bei Lukas verbirgt – auf den Akt der Geburt selbst und darauf, welcher Zauber und vielleicht auch welcher Schrecken in Anfängen steckt. Ich würde mich freuen, wenn wir Sie in den nächsten vier Wochen mit unserem Blog begleiten dürften. Auch freuen würde ich mich übrigens, wenn die Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler in 200 Jahren nicht mehr wie ich fragend vor ihrem Bücherregal stünden, sondern dort Bücher herausziehen könnten – mehrere Bücher – in denen sich die vielen Facetten der Geburt und des Gebärens wiederfänden. Ausdrücklich auch die positiven.

Friederike Krippner ist Literaturwissenschaftlerin und Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin.

Geburt und Anfang. Ein Adventsblog

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe.“ So knapp beschreibt der Evangelist Lukas Jesu Geburt. Der Akt der Geburt, ein halber Vers. Dieser halbe Vers hat es allerdings in sich. Denn damit ist alles anders als zuvor. Nun ist der Heiland in der …

Krippner, Friederike 2020

Dr. Friederike Krippner

Akademiedirektorin

Telefon (030) 203 55 - 505

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