Denkräume für Utopien

Denkräume für Utopien

Politische Bildung in Krisenzeiten | Blog | Hannah Schilling

© Jonas Klinke / EAzB

Welchen Sinn hat politische (Jugend-) Bildung noch, wenn Demokratieskepsis erstarkt und es eigentlich immer weniger Interesse an dieser Art von Arbeit gibt? Ein Plädoyer für eine politische Bildung, die junge Menschen dafür stärkt, Demokratie neu zu gestalten und auf die Mitte der Gesellschaft zu schauen.

Unsere Demokratie steht unter Druck: Antidemokratische Einstellungen werden salonfähig, populistische Bewegungen gewinnen an Zulauf und unterstützen zum Teil offen autoritäre Ideologien. Die Corona-Protestbewegung etwa ist zum Sammelbecken für Anhängerinnen und Anhänger von allerlei Verschwörungsmythen geworden. In der jüngsten Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zum Vertrauen in die Demokratie äußerte sich eine Mehrheit von 53,4 Prozent der Befragten wenig oder überhaupt nicht zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. Die Frage ist: Was tun? Welchen Sinn hat politische (Jugend-) Bildung noch, wenn Demokratieskepsis erstarkt und es eigentlich immer weniger Interesse an Demokratiebildung gibt?

Meine These: Gerade jetzt ist trotz allem eine starke politische Demokratiebildung wichtig. Drei Aspekte sollte sie in den Mittelpunkt stellen:

Erstens darf politische Bildung als Demokratiebildung nicht nur an den Rändern ansetzen und auf Extremismusprävention zielen. Vielmehr sollte sie Demokratie als eine Gesellschaftsform verstehen, die stets neu verhandelt und gestaltet werden muss – und zwar von allen. „Denn die Demokratie bleibt künftig, bleibt im Kommen, bleibt, indem sie kommt.“ (Jacques Derrida) Oder in den Worten der Politikwissenschaftlerin Sabine Achour: „Politische Bildung funktioniert nicht als Feuerwehr zum Löschen antidemokratischer Brände, sondern ist eine Daueraufgabe im Sinne der Demokratiestärkung der Mitte, die sich gegen Rechtsextremismus und Menschenfeindlichkeit einsetzt.“

Dass rund die Hälfte der Befragten in der FES-Studie mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland unzufrieden ist, deutet ja nicht nur auf Demokratieskepsis hin, sondern zeigt auch, wie dringlich Erneuerung ist. Gerade hier sehe ich einen Ansatzpunkt für politische Bildung. Sie sollte junge Menschen darin stärken, Demokratie neu zu gestalten. Dabei gilt es offen und konstruktiv zu fragen: Was heißt es eigentlich, demokratisch miteinander zu leben? Statt in absoluten Kategorien von richtig und falsch zu denken und starre Wertvorstellungen vor uns her zu tragen, sollten wir demokratische Konfliktfähigkeit ins Zentrum von politischer Bildung stellen – und es wagen, auch Denkräume für Utopien zu eröffnen.

Zweitens sollten wir dafür sorgen, dass alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen schon früh – zum Beispiel in der Schule oder in der Familie – demokratisches Miteinander in ihrem Alltag erfahren dürfen und von Angeboten politischer Bildung profitieren können. Dies ist oft nicht der Fall – und das ist ein Problem. Denn gerade sozio-kulturell benachteiligte Menschen fühlen sich öfter als andere politisch machtlos, haben wenig Vertrauen in die Demokratie und entwickeln häufiger menschenfeindliche und rechtspopulistische Einstellungen, so eine Erkenntnis der jüngsten „Mitte-Studie“ der FES.

Um politische Bildung zugänglicher zu machen und den elitären, akademischen Anstrich ihrer Angebote abzulegen, müssen wir Formate und Formen politischer Bildung neu denken. Das bedeutet, ausgehend von den konkreten Lebenserfahrungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufzuzeigen, inwiefern hier Fragen des demokratischen Miteinanders auftauchen. Das können zum Beispiel die Gestaltung des Jugendclubs sein oder die Visionen für eine Schule von morgen. Dazu ist es wichtig, die Jugendlichen vor Ort, in ihrer Lebenswelt zu treffen und dort im Rahmen von aufsuchender Jugendarbeit politische Bildungsangebote zu machen. Auch der Zugang über Emotionen kann sinnvoll sein. Denn Emotionen scheinen auf den ersten Blick vielleicht nicht ins akademische Repertoire zu passen, können aber genauso politisch und ein Ausgangspunkt für Demokratiebildung sein, wie Politikwissenschaftlerin Achour betont.

Drittens ist Demokratiebildung immer auch Beziehungsarbeit. Während der Corona-Pandemie wurde politisch meist einerseits Solidarität eingefordert und von einem großen „Wir“ gesprochen, andererseits aber dazu aufgerufen, sich zu distanzieren und zu vereinzeln. Nach diesen Pandemie-Erfahrungen brauchen wir mehr denn je Geselligkeitsmomente und „dritte Orte“, an denen wir Anderen begegnen. Politische Bildung ist nicht nur Wissensvermittlung, sondern schafft Begegnungs- und Beziehungsräume, in denen wir anderen, nicht-vertrauten Menschen begegnen. Dabei lernen wir auch, andere Perspektiven zu sehen, ohne uns mit ihnen identifizieren zu müssen, und Momente des Zusammenseins zu erleben, die nicht auf Gleichklang beruhen, sondern Vielstimmigkeit aushalten.

Kurzum: Politische Bildung ist nötiger denn je – und zwar für alle. Aber sie sollte nicht in Form der Belehrung über (absolute) demokratische Werte daherkommen oder als Vermittlung von Wissen darüber, was Demokratie ist. Sondern sie sollte die Gestalt von Begegnungen annehmen, von spielerischer Auseinandersetzung mit den Dilemmata der Demokratie, den Konflikten und dem Unausgereiften, Unfertigen. Dazu müssen Formate zum Normalfall werden, bei denen nicht akademische Sprache die Norm ist, sondern andere Ausdrucksformen im Zentrum stehen. Mit der neuen Werkstatt TROTZDEM! haben wir uns an der Evangelischen Akademie zu Berlin auf diesen Weg gemacht.

„TROTZDEM!“ lautet auch der Titel unseres heute beginnenden Blogs, mit dem wir Sie durch die Adventszeit begleiten möchten. Denn der Advent hat eine widerständige Botschaft: Er setzt der Dunkelheit das Licht der Hoffnung entgegen, ohne das Dunkel zu leugnen. In diesem Blog vor Weihnachten greifen wir die Widersprüche und Widerständigkeiten des Wartens und Hoffens in einem Advent auf, der in diesem von Krieg und Energiekriese geprägten Jahr besonders düster und kalt wirkt. Im Mittelpunkt stehen dabei die Themen und Perspektiven unserer Werkstatt TROTZDEM!, die diese Haltung schon im Namen trägt: Es geht um drängende gesellschaftliche, soziale, wirtschaftliche und theologische Fragen – und um Menschen, die an ihrer Lösung arbeiten.

Begleitet werden die Texte von einer fotografischen Suche nach der Veränderung im adventlichen Berlin 2022 – und weil Musik aus der Adventszeit nicht wegzudenken ist, auch jeweils von einem Song oder Musikstück zum Thema. Wir laden Sie ein: Lassen Sie sich von diesen Texten, Bildern und unserer nach und nach wachsenden Playlist zum Blog durch den Advent begleiten.

Dr. Hannah Schilling ist Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugendbildung an der Evangelischen Akademie zu Berlin und koordiniert unsere im vergangenen Sommer gestartete Werkstatt TROTZDEM!. Als Song für unsere Playlist zum Blog hat sie „Utopie“ von Dota Kehr gewählt.

Die ganze Playlist zum Adventsblog TROTZDEM!

Zitierte Quellen:

Achour, Sabine (2021), Wer rettet die Demokratie? Politische Bildung als Daueraufgabe zur Demokratiestärkung, in: FES Info 02/2021 (PDF-Dokument), S. 5-6.

Decker, Frank/Best, Volker/Fischer, Sandra/Küppers, Anne (2019), Vertrauen in Demokratie (PDF-Dokument). Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn/Berlin. Für die im Text zitierten Befunde siehe S. 30.

Derrida, Jacques (2000), Politik der Freundschaft. Suhrkamp, Frankfurt am Main. Das Zitat findet sich auf S. 409.

Zick, Andreas/Küpper, Beate (Hrsg.) (2021), Die geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.

TROTZDEM! Ein Adventsblog

Der Advent liegt in unseren Breiten in der dunklen Jahreszeit: Die Tage sind kurz und kalt, auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule ist es ebenso dunkel wie auf dem Heimweg. In diesem Jahr lösen Dunkelheit und Kälte selbst in einem so reichen Industrieland wie Deutschland Beklemmung aus. Hohe …

Dr. Hannah Schilling 2021

Dr. Hannah Schilling

Studienleiterin für gesellschaftspolitische Jugendbildung

Telefon (030) 203 55 - 311

Trotzdem! Die Werkstatt der Evangelischen Akademie zu Berlin.

TROTZDEM!

Die Werkstatt der Evangelischen Akademie zu Berlin

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