In was für einem Europa wollen wir leben

In was für einem Europa wollen wir leben?

Akademie unterstützt Appell zum Flüchtlingsschutz

Silhouetten vieler Menschen vor einem Stacheldrahtzaun, darübergeblendet Teile einer EU-Flagge

© studio v-zwoelf/Adobe Stock

Gemeinsam mit mehr als 60 Organisationen der deutschen Zivilgesellschaft hat die Evangelische Akademie zu Berlin einen Appell an die Bundesregierung unterzeichnet, bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes einzugehen. Oliver Schmidt, der als Studienleiter für Migration und Europa unter anderem das Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz betreut, erläutert im Gespräch die Gründe.
 

Warum hat sich die Akademie dem von Pro Asyl initiierten Appell angeschlossen?

Oliver Schmidt: Mit dem jährlichen Berliner Symposium zum Flüchtlingsschutz schaffen wir gemeinsam mit unseren Kooperationspartner*innen seit vielen Jahren ein Forum, um nach Wegen zum wirksamen Schutz geflüchteter Menschen zu suchen. Indem wir gemeinsamen Appell unterzeichnet haben, machen wir deutlich, dass die Akademie bei diesem Thema nicht nur neutraler Diskursraum ist. Vielmehr sehen wir als christliche Organisation unsere Aufgabe darin, Position für den Schutz von Geflüchteten zu beziehen.

In der Debatte über eine europäische Asylpolitik wird derzeit besonders über Asylverfahren an den Außengrenzen der Europäischen Union diskutiert. Was ist daran so problematisch?

Schmidt: Hinter der bürokratischen Phrase „Asylverfahren an den Außengrenzen“ verbirgt sich eine Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit, mit der auch eine Entwertung der Menschenrechte einhergeht. Menschen flüchten, weil sie politisch verfolgt werden, weil ihnen Hunger droht, weil sie durch Kriege dazu gezwungen werden, weil ihnen sexuelle oder geschlechtsspezifische Gewalt angetan oder angedroht wird. Kurz: Sie flüchten vor Leid und Schmerz. Sie flüchten, weil ihnen Menschenrechte versagt werden. Und wir schicken uns als Europäer*innen gerade an, den Leidensdruck noch zu erhöhen.

Dabei wäre es unsere Aufgabe, diesen Menschen einen Schutzraum zu bieten. Dies gelingt über Asyl. Ein menschenwürdiges Asylsystem garantiert letztlich umfassendere Menschenrechte für die Geflüchteten, wie zum Beispiel das Recht auf Leben oder die Religions-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Der Flüchtlingsschutz ist ein Kristallisationspunkt der Menschenrechte. Denn über ihn ermöglichen wir bestimmten Gruppen, dass für sie Menschenrechte genauso gelten und wirken wie für uns. Am Umgang mit geflüchteten Menschen können wir zudem unsere eigenen Menschenrechtsstandards messen. Wir sollten daher nicht nur vom Menschen sprechen, sondern in unserer politischen und alltäglichen Praxis tatsächlich Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfe leisten.

Was bedeuten die aktuell auf EU-Ebene diskutierten Maßnahmen konkret?

Schmidt: Stellen Sie sich vor, Sie flüchten vor einem brutalen Regime und erreichen dann einen EU-Staat an einer Außengrenze der Europäischen Union. Das Szenario könnte künftig wie folgt aussehen: Sie bitten um Asyl. Statt Schutz zu erhalten, werden Sie sofort interniert und Ihnen droht eine Abschiebung. Denn nichts anderes passiert, wenn wir Menschen in ein solches Schnellverfahren drängen.

Hinzu kommt, dass weitere Länder zu „sicheren Drittstaaten“ erklärt werden sollen. Das hat zur Folge, dass weniger Anträge überhaupt zugelassen werden. Die Sorge von uns ist, dass die Beschleunigung des Verfahrens und die Fülle an „sicheren Drittstaaten“ zur Folge hat, dass es  nicht mehr um eine inhaltliche Prüfung der Asylbitten geht.

Wir schließen Menschen also von einem fairen Asylverfahren aus, obwohl sie genau darauf ein Anrecht haben. De facto würden wir so in eine Situation geraten, in der Asylanträge massenhaft als unzulässig abgeschmettert werden könnten, ohne sie überhaupt inhaltlich zu prüfen. Statt Leid und Schmerz zu lindern, würden wir damit neues Leid schaffen. Wenn das geschieht, geben wir den Flüchtlingsschutz für einen großen Teil der Betroffenen endgültig auf.

Inwiefern endgültig?

Schmidt: Seit Jahren erleben wir eine Brutalisierung des Grenzregimes der EU, die außerdem versucht, ihre Verantwortung zu externalisieren und zu exterritorialisieren. Menschen sterben beim Versuch, die EU zu erreichen, weil wir keine legalen Wege ermöglichen. In „Hotspots“ wurden Ankömmlinge interniert, weil sie um Hilfe baten. Geflüchtete geraten in Ausbeutungsverhältnisse – vor allem als Erntehelfer*innen oder Sexarbeiter*innen. Helfer*innen wurden und werden kriminalisiert, etwa wenn sie sich in Seenotrettung oder Kirchenasyl engagieren. Das EU-Grenzregime ist also nicht erst seit heute brutal, sondern es war es schon vorher. Jetzt erleben wir eine mögliche Steigerung.

Können wir überhaupt etwas tun?

Schmidt: Ja, und es wird auch viel getan. Nichtregierungsorganisationen wie zum Beispiel unsere Kooperationspartner Pro Asyl und Amnesty International, aber auch viele andere Organisationen und Parlamentarier*innen erheben ihre Stimmen und kämpfen gegen diese Entwicklung an. Um diese Stimmen zu unterstützen, haben wir uns als Evangelische Akademie zu Berlin entschieden, die gemeinsame Stellungnahme zu unterzeichnen. Vor allem sind aber staatliche Akteure in der Pflicht zu helfen.

Ich frage mich immer, wo will ich leben? In einem Land – und jetzt paraphrasiere ich Erich Maria Remarque – in dem der Mensch nichts mehr ist und ein gültiger Pass alles? Remarque hat schon in seinem 1962 erschienenen Werk Die Nacht von Lissabon eindringlich beschrieben, wie brutal Bürokratie, verweigerte Aufenthaltsbewilligungen und die Internierung von Geflüchteten wirken können. Das Schlimme ist, dass sich daran seit der Zeit der Weimarer Republik und des Zweiten Weltkriegs, die der Autor schildert, nichts grundsätzlich geändert hat. Die Situation im Moment erinnert stark an die Grundgesetzänderung zum Asylrecht vor 30 Jahren. Wir müssen uns jetzt entscheiden: Geben wir illiberalen Ansichten nach oder gehen wir einen Weg hin zu einer pluralistischen Gesellschaft weiter?

Was können wir als Christinnen und Christen tun?

Schmidt: Die Frage ist weniger, was wir können, sondern was wir aus einem gelebten Glauben heraus tun müssen. Die Bibel als Buch der Migration, als Buch der Flucht zeigt uns mit vielen Geschichten, dass wir helfen müssen. Ich zähle nur ein paar Stellen auf: 2. Mose 22,20 und 23,9: „Einen Fremden sollst du nicht bedrücken, und du sollst ihn nicht bedrängen, denn ihr seid im Lande Ägypten Fremde gewesen. Einen Fremden sollst du nicht bedrängen, weil ihr die Seele des Fremden, denn ihr seid im Lande Ägypten Fremde gewesen.“, 3. Mose, 19,33-34: „Und wenn ein Fremder bei dir weilt, in eurem Land, sollt ihr in nicht bedrücken. Wie ein Einheimischer von euch soll der Fremde gelten, der bei euch weilt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr wart Fremde im Land Ägypten.“ Oder 3. Mose 24,22: „Einerlei Recht gelte für euch. Für den Fremden gilt es genau wie für die Einheimischen. Denn ich bin Jhwh, euer Gott.“ Auch die Bergpredigt gibt uns einen klaren Weg vor. Als Christinnen und Christen dürfen wir nicht nur bürokratisch denken, sondern müssen mit dem Gewissen entscheiden.

Was folgt daraus konkret für die Asylpolitik?

Schmidt: Wir müssen uns für ein ausdifferenziertes Asylrecht mit menschenwürdigen und fairen Asylverfahren als Kern einer pluralistischen Gesellschaft einsetzen. Deshalb sollten wir weder verpflichtende Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen zulassen noch eine Absenkung der Anforderungen an „sichere Drittstaaten“ und sollten uns für echte Solidarität in der Flüchtlingsaufnahme einsetzen.Dabei benötigen wir – wie der Flüchtlingsbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Berliner Landesbischof Christian Stäblein gerade erklärt hat – „einen verpflichtenden und solidarischen Verteilmechanismus sowie sichere und legale Wege in die EU und die Wiederaufnahme der staatlichen Seenotrettung im Mittelmeer“.

Dr. Max Oliver Schmidt

Studienleiter Migration und Europa

Telefon (030) 203 55 - 588

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